Du hast kürzlich gemeinsam mit Ingrid Rehwinkel und Herbert Weisbrod-Frey für die Friedrich-Ebert-Stiftung den Diskussionsbeitrag »Berufliche Bildung im Gesundheitswesen – Reformbedarfe und Handlungsvorschläge« erstellt. Worin besteht denn der Reformbedarf bei der Ausbildung von Gesundheitsbeschäftigten?
Besonders augenfällig ist der Reformbedarf in den Heilberufen, weshalb wir uns im Diskussionspapier schwerpunktmäßig mit diesen beschäftigt haben. Hierzu zählen neben den Pflegeberufen u.a. die medizinisch-technischen und therapeutischen Berufe, also Logopädie, Physio- und Ergotherapie.
Problematisch ist, dass jeder Heilberuf sein eigenes Berufszulassungsgesetz hat, das – wie der Name schon sagt – vor allem die Voraussetzungen für die Berufszulassung bestimmt und quasi nebenbei auch die Ausbildung regelt. Das erfüllt bei Weitem nicht die Standards, die in unserem Berufsbildungssystem üblich sind. Für die allermeisten anderen Ausbildungsberufe, insgesamt etwa 320, besteht mit dem Berufsbildungsgesetz (BBiG) ein einheitlicher Rahmen. Die Heilberufe sind hingegen sehr unterschiedlich geregelt. Zum Teil sind sie eher am dualen System des BBiG orientiert, wie die Pflegeberufe, oder sie sind eher schulisch ausgerichtet, zum Beispiel die Ausbildung der Diätassistent*innen. Auch der Regelungsumfang im Bundesrecht ist sehr verschieden.
Warum ist das ein Problem?
Weil es dazu führt, dass die Ausbildungsqualität stark von der jeweiligen Schule abhängt oder davon, ob die Bundesländer konkretere Regelungen beschlossen haben. In einigen Ländern sind die Berufe Teil des Berufsfachschulsystems, was bestimmte Festlegungen beinhaltet. In anderen Ländern bleibt es ganz den Schulen überlassen, wie sie das jeweilige Bundesgesetz ausfüllen. Das ist sowohl mit Blick auf die Versorgungsqualität als auch auf die Attraktivität der Berufe problematisch. Gerade bei verantwortungsvollen Tätigkeiten, bei denen es um die Gesundheit von Menschen geht, sollten bundesweit einheitliche Standards gelten.
Abgesehen von der Reform der Hebammenausbildung hatte sich die Bundesregierung bislang weitgehend darauf beschränkt, bestehende Berufsgesetze weiterzuentwickeln. In aktuellen Gesetzgebungsverfahren, wie bei der Neuregelung der MTA-Ausbildung und der bundesrechtlich erstmals geregelten ATA- und OTA-Ausbildung, gibt es hingegen Annäherungen an das duale System. Hier werden Betriebe stärker in die Verantwortung genommen und beispielsweise die Zahlung einer Ausbildungsvergütung gesetzlich vorgeschrieben.
Ihr plädiert grundsätzlich dafür, die Sonderrolle der Gesundheitsberufe zu beseitigen. Warum?
Weil es wie gesagt einheitliche Qualitätsstandards braucht. Jedes Gesetz legt einen anderen Rahmen fest. Zum Beispiel zur Qualifikation der Lehrkräfte: Das geht von keinerlei Vorschriften bis hin zum Master-Abschluss als Bedingung für die Lehrtätigkeit. Bei Berufen, die in der Gesundheitsversorgung ein bestimmtes Qualitätsniveau erreichen sollen, ist das nicht hinnehmbar. Dies sagt noch nichts darüber aus, ob die Lehrkräfte bei den Hebammen oder in der Ergotherapie einen guten Job machen oder nicht. Aber sie unterschreiten die formalen Qualifikationsanforderungen, die sonst im Berufsbildungssystem gegeben sind. Dafür gibt es keinen Grund. Warum sollten die Standards, die die Länder für allgemeinbildende und Berufsschulen festschreiben, nicht auch in den Schulen des Gesundheitswesens gelten? Noch weniger ist in einigen Berufszulassungsgesetzen in Bezug auf die praktische Ausbildung geregelt. Da sind vielleicht noch der Umfang und Bereiche der Praktika definiert, aber das war es auch schon. Andere enthalten differenzierte Vorschriften auch zu Ausbildungsinhalten in der Praxis und zur Gestaltung des Ausbildungsverhältnisses.
»Gerade bei verantwortungsvollen Tätigkeiten, bei denen es um die Gesundheit von Menschen geht, sollten bundesweit einheitliche Standards gelten.«
Würde sich diese Situation mit der Überführung der Gesundheitsberufe in das Berufsbildungsgesetz (BBiG) verbessern?
Ja, denn das BBiG schreibt im Hinblick auf die praktische Ausbildung die Anforderungen an den Betrieb fest, zum Beispiel, dass es einen Ausbildungsplan geben muss und dass Ausbilder*innen zur Verfügung stehen müssen etc. Auch der Status der Auszubildenden ist nach BBiG klar definiert. Nicht so in vielen Berufszulassungsgesetzen: Sind sie Schüler*innen, Studierende, Auszubildende? Auszubildende nach BBiG haben gewisse Rechte: Sie sind sozialversicherungspflichtig, erhalten eine angemessene Ausbildungsvergütung, haben gegebenenfalls Anspruch auf Arbeitslosengeld, zahlen kein Schulgeld und so weiter. Es ist doch unglaublich, dass man ausgerechnet im Gesundheitswesen für seine Ausbildung teilweise noch Geld bezahlen muss. Der Grund ist, dass ein Teil der Schulen privat organisiert ist und sich über Beiträge finanziert. Im Berufsbildungsgesetz hingegen ist klar, dass die Ausbildung kostenfrei ist. Schulgeld ist dort ausgeschlossen. Uns geht es dabei weniger um die Frage der rechtlichen Verortung im System als vielmehr um die Anwendung üblicher Qualitätsstandards und Rahmenbedingungen, sowohl in der praktischen Ausbildung als auch im theoretischen Unterricht.
Was würde bei einer Überführung ins BBiG mit den Schulen des Gesundheitswesens geschehen, die bislang den theoretischen Teil der Ausbildung abdecken?
Wenn die Ausbildungen auf Grundlage des BBiG geregelt werden, findet die schulische Ausbildung in der Regel in Berufsschulen statt. Man kann sich vorstellen, dass einige der größeren Schulen zu Berufsschulzentren für Gesundheitsberufe werden. Schulische Berufsbildung ist meines Erachtens – wie auch die Gesundheitsversorgung insgesamt – eine öffentliche Aufgabe, die gemeinschaftlich finanziert werden muss. Dass die meisten Schulen des Gesundheitswesens nicht Teil des Berufsschulsystems sind, hat noch weitere gravierende Nachteile.
Welche?
An berufsbildenden Schulen in öffentlicher Trägerschaft hat man zumeist die Möglichkeit, sich auch schulisch weiterzuentwickeln und zum Beispiel die mittlere Reife oder das (Fach-)Abitur zu erwerben. An Schulen des Gesundheitswesens geht das in den meisten Fällen nicht, weil sie normalerweise keinen allgemeinbildenden Unterricht anbieten. Zumindest ist das in den Ausbildungs- und Prüfungsverordnungen des Bundes nicht vorgesehen.
Um dem Fachkräftemangel zu begegnen, muss in den Gesundheitsberufen mehr ausgebildet werden. Ihr argumentiert, dass dies mit einer Qualifizierungsoffensive für Lehrkräfte einhergehen muss.
Das gehört ganz klar zusammen: Wer eine Ausbildungsoffensive machen will, muss auch die entsprechenden Rahmenbedingungen dafür schaffen, dazu gehört genug qualifiziertes Lehrpersonal. Das Problem ist aber wie gesagt, dass die Anforderungen an die Qualifikation der Lehrkräfte in den Berufen und Bundesländern ganz unterschiedlich sind. Durch den Sonderstatus der Schulen ist die Lehrkräftequalifikation nicht in die universitäre Lehrerausbildung integriert. Man müsste daher ein wissenschaftliches Lehramtsstudium in den betreffenden Fächern etablieren. Das würde die Voraussetzung für einen wissenschaftlich fundierten Unterricht schaffen. Bislang ist das großteils nicht der Fall, denn die Lehrkräfte unterrichten derzeit hauptsächlich auf Grundlage ihrer Berufserfahrung und nicht einheitlich geregelten Weiterbildungs- oder Studienabschlüssen. Ich will das keinesfalls geringschätzen – ganz im Gegenteil. Aber nur mit einer wissenschaftlich fundierten Lehrerausbildung und entsprechender Fortbildung ist sichergestellt, dass sie den aktuellen wissenschaftlichen Stand ihres Fachs vermitteln können. Dass die Länder hier nicht aktiv werden, erklärt sich aus den Kosten, die damit verbunden sind. Stattdessen fordern manche, dass die Ausbildung der Gesundheitsberufe selbst an die Hochschulen verlegt wird.
Im deutschen Berufsbildungssystem lassen sich drei Regelungsbereiche unterscheiden: Berufe auf Grundlage des Berufsbildungsgesetzes (BBiG), landesrechtlich geregelte Berufe, die an Berufsfachschulen, also überwiegend schulisch ausgebildet werden. Und drittens Berufe, die auf Grundlage von Berufszulassungsgesetzen als Heilberufe geregelt sind. Gesundheitsberufe gibt es in allen drei Bereichen. Ausschließlich dem Landesrecht unterliegen hauptsächlich Pflegeassistenzberufe und eher sozialpflegerisch oder pädagogisch ausgerichtete Berufe wie die Heilerziehungspflege.
Demnach siehst du die Forderung nach einer hochschulischen Erstausbildung in den Gesundheitsberufen kritisch?
Jedenfalls erscheint es mir nicht sinnvoll, die Berufe in unterschiedliche Ausbildungsniveaus zu teilen, deren Kompetenzbereiche und Tätigkeitsfelder noch nicht einmal vernünftig voneinander abgegrenzt sind. Es gibt bislang keinen Beleg dafür, dass dies für eine Verbesserung der Gesundheitsversorgung notwendig und sinnvoll ist. Es gab und gibt zwar Erfahrungen mit Modellversuchen, die auf Drängen von ver.di im Gesetzgebungsverfahren auch evaluiert wurden, aber die entscheidende Frage ist weiterhin offen, nämlich ob mit einem Erststudium besser und adäquater ausgebildet und die Versorgung dadurch verbessert wird. Es gibt jetzt ein Durcheinander unterschiedlicher Qualifikationen, die nicht klar voneinander abgegrenzt sind. Was können die hochschulisch Ausgebildeten besser oder anders als die anderen Fachkräfte? Wo sind ihre besonderen Einsatzmöglichkeiten? Ist die therapeutische Qualität bei Beschäftigten mit akademischem Abschluss besser? Diese Fragen sind nicht beantwortet, und leider werden sie auch gar nicht hinreichend untersucht. Eine nur an Hochschulen angesiedelte Erstausbildung würde zudem einen erheblichen Teil der Schulabgänger*innen von dieser Berufswahl ausschließen.
Die bereits bestehenden und neu entwickelten Studiengänge werden mit dem üblichen Bachelorgrad abgeschlossen. In dem Diskussionspapier sprechen wir uns dafür aus, stärker auch entsprechende Masterstudiengänge zu entwickeln, um die Qualifikationen für Lehre und Forschung voranzutreiben und über die Erstausbildung hinausgehende Kompetenzen für das jeweilige Berufsfeld herauszubilden.
In Bezug auf die Pflege wird einerseits über Akademisierung diskutiert, anderseits haben die Länder in den vergangenen Jahren viele verschiedene Pflegeassistenzberufe geschaffen. Auch hier gibt es bundesweit große Unterschiede.
Ja, allein für die Pflegeassistenz im engeren Sinne lassen sich 28 verschiedene Ausbildungsregelungen mit mindestens neun unterschiedlichen Abschlussbezeichnungen identifizieren. Die meisten dieser Ausbildungen dauern nur ein bis zwei Jahre. Ausgerechnet im Gesundheits- und Sozialwesen gibt es solche kurzen Ausbildungen, während in anderen Branchen drei bis dreieinhalb Jahre die Regel sind. Menschen gehen üblicherweise in solche Assistenzberufe, weil sie in der Ausbildung zur Pflegefachkraft nicht genommen werden. Wenn sie schlechtere schulische Voraussetzungen mitbringen, ist das aber doch kein Argument für eine kürzere Ausbildung – eher im Gegenteil. Deshalb sprechen wir uns in dem Diskussionspapier für eine einheitliche dreijährige Ausbildung für den Pflegeassistenzberuf aus, wie sie auch für die meisten anderen Ausbildungsberufe Standard ist. Auch diese Pflegekräfte müssen nach Abschluss ihrer Ausbildung eigenständig und selbstverantwortlich arbeiten können. Um die Durchlässigkeit zur Fachkraftqualifikation zu gewährleisten, muss die Weiterbildung der Assistenzkräfte systematisch gefördert werden
Wenn die Ausbildung von Hilfskräften so lange dauert wie von Pflegefachkräften wäre sie aber nicht mehr die Antwort auf den Fachkräftemangel.
Das ist sie auch nicht. Der eigentliche Grund für den zunehmenden Einsatz von Hilfskräften sind die Kosten. Indem Facharbeit von geringer qualifizierten – und schlechter entlohnten – Beschäftigten geleistet wird, muss weniger für sie bezahlt werden. Tatsächlich ist Pflege aber immer Facharbeit. Der Fachkräftemangel ist ein Vorwand. Wer ihn beseitigen will, muss die Bedingungen verbessern, damit genug Menschen den Beruf ergreifen und darin bleiben. Stattdessen den Anteil der Fachkräfte zu senken und sie durch geringer qualifizierte Beschäftigte zu ersetzen, wird sich negativ auf die Versorgungsqualität auswirken. Und auch die Attraktivität des Pflegeberufs wird durch die Ausdifferenzierung nicht zunehmen – weder für Fach- noch für Hilfskräfte.
Bereichsleiterin Berufspolitik/Jugend
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