Keine Frage: Eine Reform der Ausbildungen in den Therapieberufen ist längst überfällig. Da waren sich alle Teilnehmer*innen einer ver.di-Denkwerkstatt am 9. und 10. Juni in Berlin einig – egal, ob sie aus der Logopädie, Ergotherapie, Physiotherapie oder Diätassistenz kamen. „Eine Aufwertung der Berufe von Beginn an ist uns enorm wichtig“, betonte ver.di-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler. Die Bundesregierung hat eine Reform angekündigt. Jetzt gilt es, die richtigen Weichen zu stellen. Im Dialog mit der zuständigen Referatsleiterin im Gesundheitsministerium, Bettina Redert, machten die Kolleg*innen klar, wie wichtig ein bundesweit einheitliches Gesamtkonzept mit verbindlichen Qualitätsstandards für die Therapieberufe ist. „Wir brauchen attraktive zukunftsfähige Ausbildungen, damit die Patient*innen bestmöglich versorgt werden“, hob Sylvia Bühler hervor. Kurzum: „Es geht um richtig viel.“
Große Sorgen riefen auf der Tagung die Pläne der Bundesregierung hervor, im ersten Schritt die Physiotherapieausbildung teilweise zu akademisieren. Demnach sollen an Hochschulen künftig Therapeut*innen ausgebildet werden, die für Planung und Steuerung der Therapieprozesse zuständig sind. Die berufsfachlich ausgebildeten Kolleg*innen sollen die Durchführung übernehmen. „Die Idee gefällt uns gar nicht“, betonte die ver.di-Fachbereichsleiterin. Unterschiedliche Qualifikationen schwächten die Berufsgruppe. „Das Konzept würde zu einer Spaltung führen.“ Der Therapieprozess müsse aus einer Hand kommen und sei nicht teilbar.
Bei der zweitätigen Veranstaltung diskutierten Kolleg*innen aus Praxen, Krankenhäusern und Reha-Einrichtungen, worauf es bei der Reform vor allem ankommt. Dabei stellten sie klar, dass die Ausbildungen unbedingt kostenfrei sein und vergütet werden müssen. „Dass junge Menschen zum Teil in Mangelberufen noch Geld mitbringen müssen, um eine Ausbildung zu machen, ist völlig aus der Zeit gefallen“, bemerkte Sylvia Bühler. „Geradezu absurd.“ Konsens herrschte auch, dass eine gute Praxisanleitung das A und O ist. Deshalb ist es wichtig, dass ein Gesetz genug Zeit für Praxisanleitung vorschreibt und Mindestanforderungen an die Qualifizierung der Praxisanleiter*innen festlegt.
Ein Kollege aus dem Saarland bezeichnete es als „Riesenproblem“, dass einheitliche Standards für die Ausbildungen fehlten. Eine Physiotherapeutin pflichtete ihm bei: „Jeder macht, was er will.“ Es gebe keine verbindlichen Lehrpläne, jede Schule bilde ganz unterschiedlich aus. Im Workshop listeten die Kolleg*innen auf einem Plakat auf, welche Vorteile ein Gesamtkonzept im Sinne eines gemeinsamen Berufegesetzes bietet. Nachteile fielen ihnen so gut wie keine ein. Melanie Wehrheim, zuständig für Berufspolitik im ver.di-Fachbereich, betonte: „Wir brauchen gute Standards für alle Therapieberufe. Das wäre ein richtig großer Fortschritt.“ Sie verwies darauf, dass im Koalitionsvertrag ein allgemeines Heilberufegesetz angekündigt sei. Doch Fakt ist, dass die Bundesregierung jetzt im ersten Schritt nur die Reform der Physiotherapieausbildung auf die Agenda gesetzt hat. Hanna Stellwag von ver.di stellte klar: „Die Stärkung der therapeutischen Berufe geht nur gemeinsam.“
Hier lohnt sich ein Blick über den Tellerrand. Andrea Wadsack und Endree Maxa von der österreichischen Gewerkschaft younion zeigten im Austausch mit den Teilnehmenden auf, dass Österreich schon einen Schritt weiter ist. Dort existiert bereits ein gemeinsames Gesetz für die therapeutischen Berufe sowie den medizinisch-technischen Laboratoriumsdienst und den radiologisch-technischen Dienst. Das Gesetz schreibt sowohl gemeinsame Rahmenbedingungen als auch berufsspezifische Regelungen vor. Eine Ausbildungsverordnung ergänzt die jeweiligen Kompetenzen für die Berufe sowie die Anforderungen an die Ausbildungen.
Der Professor für Berufspädagogik, Thomas Bals, und seine Kollegin Dr. Janika Grunau von der Universität Osnabrück betonten in ihrem Vortrag, dass Deutschland über ein „wirklich gutes“ Ausbildungssystem verfüge. Auch im Vergleich mit anderen europäischen Ländern zeige sich, dass die Fachkräfte außerordentlich gut ausgebildet seien. Zudem zeigten Studien, dass in den Therapieberufen die Ausbildungszahlen stiegen – trotz rückläufiger Zahlen von Schulabgänger*innen. Das heiße zwar nicht, dass die Auszubildenden auch alle im Beruf ankämen, sagte Thomas Bals mit Blick auf die Abbrecher*innenquote. „Aber wir haben insgesamt auf dem Berufsbildungsmarkt eine ganz vernünftige Situation.“ Warum trotzdem der Ruf nach einer Akademisierung der Ausbildungen so laut ist, lässt sich seiner Ansicht nach wissenschaftlich kaum rechtfertigen. Der Professor forderte mehr Nüchternheit in der Debatte. Die wenigen Studien, die es dazu gebe, zeigten keinerlei Vorteile auf. Im Gegenteil. Der Wissenschaftler verwies auf die Erfahrungen mit der Pflegeausbildung an Hochschulen. Die Nachfrage nach einem primärqualifizierenden Studium sei äußerst gering: So seien im Wintersemester 2021/2022 von 621 Plätzen an 18 Hochschulen nicht einmal die Hälfte belegt gewesen. Lediglich 290 Studierende hätten sich immatrikuliert. Sein Fazit: „Die akademische Pflege ist ein Flop.“
Auf der Tagung beschäftigte die Teilnehmenden vor allem, welche Kompetenzen und Tätigkeiten mit einer Akademisierung einhergehen. Die Pläne des Bundesgesundheitsministeriums legen nah, dass künftig ein kleiner Teil der Berufsgruppe – etwa 10 bis 20 Prozent – über eine hochschulische Qualifikation verfügen soll. Stellt sich die Frage: Wer ist danach in der Praxis für welche Arbeit zuständig? Wird der Therapieprozess in einfachere und höherqualifiziertere Tätigkeiten unterteilt? Und werden die Kolleg*innen unterschiedlich bezahlt? Ein Physiotherapeut fürchtete, dass es künftig zwei Klassen von Therapeut*innen gibt. „Mir gefällt nicht, dass unsere Berufsgruppe zerteilt werden soll.“
Die Leiterin des Referats Ausbildung und Berufszugang zu den Heilberufen II, Bettina Redert, aus dem Bundesgesundheitsministerium verwies auf den Fachkräftemangel. Im Kern gehe es bei der Reform darum, die Attraktivität der Ausbildung zu steigern. Sie brachte klar zum Ausdruck, dass eine Abschaffung des Schulgelds geplant ist - bundesweit verbindlich. Außerdem sei eine Ausbildungsvergütung zentral. „Auch die Praxisanleitung ist ein ganz wichtiger Punkt“, sagte Bettina Redert. Geplant seien verbindliche Vorgaben für die Physiotherapieausbildung. Ob es tatsächlich auf 30 Prozent Praxisanleitung herausläuft, wie von ver.di mindestens gefordert, ließ sie offen. Die Zahl müsse „ehrgeizig“ sein, dürfe aber den „Bogen auch nicht überspannen.“ Der Forderung nach einem gemeinsamen Berufegesetz konnte die Ministeriumsvertreterin in der Debatte persönlich viel abgewinnen. Eine einheitliche Regelung mit gemeinsamen Standards habe durchaus Charme- die umfassende Modernisierung der einzelnen Berufsausbildungen stehe aber gerade klar im Vordergrund.
Die Referatsleiterin stellte klar, dass der Zugang zur Physiotherapieausbildung weiterhin mit den bisherigen Schulabschlüssen eröffnet sein solle. Doch neben der schulischen Ausbildung solle künftig auch regulär ein Bachelorstudium angeboten werden. Dabei sei ebenfalls ein hoher Praxisanteil vorzusehen. Im Gespräch sei ein Anteil von mindestens einem Drittel. Mit Blick auf die Kompetenzen und Tätigkeiten äußerte Bettina Redert: „Die Idee ist, niemandem etwas wegzunehmen.“ Wie das funktionieren soll, war den Teilnehmenden unklar. In der Debatte räumte die Ministeriumsvertreterin ein, dass es dabei noch „Abgrenzungsfragen“ gebe. Die Überlegung sei, im Studium sogenannte Add-Ons zu vermitteln. Eine Idee dazu sei, dass nicht alle Zertifikate in Fortbildungen erworben werden müssten, sondern teilweise in die Ausbildung integriert werden. Außerdem sei im Gespräch, die berufsrechtlichen Kompetenzgrundlagen für einen Direktzugang in der Versorgung zu schaffen. Sprich: Die Therapeut*innen können selbst Diagnosen stellen, so dass die Patient*innen vorher nicht erst einen Arzt bzw. eine Ärztin aufsuchen müssen.
Viele Kolleg*innen betonten, dass auch die Berufserfahrung wichtig sei – nicht nur die Qualifikation. Eine Gewerkschafterin äußerte sich besorgt und warnte davor, bestimmte Tätigkeiten nicht nur hochschulisch ausgebildeten Therapeut*innen vorzubehalten. Das gelte auch für den Direktzugang. Diese Möglichkeit müsse auch den anderen Therapeut*innen eingeräumt werden, beispielsweise durch Weiterbildungen. „Es wäre schwierig, wenn ihnen das verschlossen bleibt.“ Viele Teilnehmenden bekräftigten die Forderung, die Durchlässigkeit zu gewährleisten. Ihre Forderung: Auch Therapeut*innen mit betrieblich-schulischer Ausbildung müsse der Weg offenstehen, die Kompetenzen aus dem Studium zu erlernen und die gleichen Tätigkeiten zu leisten.
Die Botschaften an das Bundesgesundheitsministerium sind klar: Es braucht zukunftsfähige, attraktive Ausbildungen mit einheitlichen Qualitätsstandards. Die Kolleg*innen machten deutlich, dass sie sich aktiv in den weiteren politischen Prozess einbringen und ihren Forderungen Nachdruck verleihen werden. Sylvia Bühler betonte, dass die Reform eine gute Gelegenheit bietet, die Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen nachhaltig zu verbessern. „Diese Chance gilt es zu nutzen!“
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