Statement von Dr. Margret Steffen, Vorsitzende der Vertreterversammlung der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege
Männer sind häufiger von berufsbedingten Krankheiten betroffen als Frauen. Das zumindest scheint eine Untersuchung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts aus dem Jahr 2015 zu belegen. Die Studie stellt berufsbedingte Krankheiten vor allem in der Industrie und im Baugewerbe fest. Typische ´Männerbranchen` also, in denen klassische Gefährdungsfaktoren wie physikalische Belastungen, Lärm oder chemische Belastungen vorherrschen. Sind typische ´Frauenberufe` im Gesundheits- und Sozialwesen demnach also gute Beispiele für einen gelungenen Arbeitsschutz und eine wirksame Gesundheitsförderung?
Ganz so einfach ist die Sache nicht: Der DGB-Index „Gute Arbeit“ zeigt regelmäßig erhebliche körperliche und psychische Belastungen für die Berufe im Gesundheits- und Sozialwesen. Ein hoher Lärmpegel, schweres Heben und das Arbeiten in ungünstigen Körperhaltungen gehören dazu. Doch diese Belastungssituation in den Pflege- und Erziehungsberufen findet sich nur bedingt im Berufskrankheitengeschehen wieder. Aktuell werden nur rund 80 Krankheiten auf der Liste der anerkannten Berufskrankheiten geführt. Eine große Zahl berufsbedingter Erkrankungen werden als solche nicht erkannt und deswegen nicht gemeldet.
Unterschätzte Risiken
Erste Indizien über geschlechtsspezifische Unterschiede im Berufskrankheitengeschehen hat die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin im Jahr 2016 vorgelegt. In diesem Bericht wurden sechs anerkannte Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems erstmals nach Berufsgruppen, Geschlecht und Alter untersucht. Die Studie zeigt: Bei fünf von sechs anerkannten Berufskrankheiten sind Frauen so verschwindend gering vertreten, dass ein Präventionsbedarf nicht gesehen wird. Risiken und Belastungen, die sich gerade an den für Frauen typischen Arbeitsplätzen, z.B. im Bereich des Gesundheitswesens und der sozialen Dienste ergeben, werden unterschätzt.
Nach der Erhebung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin ist Präventionsbedarf für die Gruppe der Frauen nur bei den Lendenwirbelsäulenerkrankungen gegeben. Diese Berufskrankheit wird als ´BK 2108` geführt. Für die ´BK 2108` wurden in den Jahren 2002 bis 2012 insgesamt 47.772 Anzeigen gestellt. Davon stellten Männer 34.340 Anzeigen und Frauen 13.432 Anzeigen. Bestätigt wurden bei Männern 1.178 Fälle einer ´BK 2108`. Neun Prozent dieser Fälle sind der Berufsgruppe der nicht-wissenschaftlichen Krankenpflege- und Geburtshilfefachkräfte zuzuordnen. Im gleichen Zeitraum wurde bei 1.699 Frauen eine ´BK 2108` bestätigt. Bei ihnen sind gut 90 Prozent der Fälle Berufen aus dem Gesundheitswesen und den sozialen Diensten zuzuordnen.
Fehlende Geschlechtersensibilität
Dieses Beispiel zeigt: Bei der Feststellung von Berufskrankheiten kann durchaus von fehlender Geschlechtersensibilität ausgegangen werden. Es existieren kaum statistische Daten, die das Berufskrankheitengeschehen nach Berufsgruppen, Geschlecht und Alter beschreiben. Dies gilt auch für Berechnungsgrundlagen, die krankheitsverursachenden Einwirkungen zugrunde gelegt werden. Hier werden häufig sogenannte Dosismodelle genutzt, wie z.B. das sogenannten Mainz-Dortmunder-Dosis-Model (MDD). Das MDD wird für die Beurteilung der Einwirkungen für die oben angesprochene ´Berufskrankheit 2108` herangezogen und gibt eine Gesamtbelastungsdosis im Berufsleben bei Frauen und Männern vor. Um die Belastung bei Frauen zu beschreiben, wird dann einfach die Hälfte der bei Männern ermittelten Dosis zugrunde gelegt.
So kann beispielsweise die Anerkennung einer Gonarthrose-Erkrankung bei einer Erzieherin nicht zum Erfolg führen. Diese Krankheit zeichnet sich durch eine Abnutzung der Kniegelenke aus. Um die Referenzwerte für diese Abnutzungserscheinung festzulegen, wurden 22 Berufe durch das Berufsgenossenschaftliche Institut für Arbeitsschutz untersucht. Bei den untersuchten Berufen handelt es sich jedoch ausschließlich um ´Männerberufe` wie Fliesenleger, Werftarbeiter oder Pflasterer. So ist es nicht verwunderlich, dass das Vorliegen dieser Berufskrankheit bei Frauen verschwindend gering ist.
Die strengen Anforderungen für die Anerkennung von Berufskrankheiten verstärken diesen Effekt noch. Häufig wird die berufliche Verursachung der angezeigten Krankheit bestritten. Oder sie wird für Frauen zwar eingeräumt, aber nicht in der dafür erforderlich gehaltenen Dosis.
Veränderte Belastungen
Zu hinterfragen sind die Dosismodelle auch hinsichtlich der sich verändernden Belastungen in der Arbeitswelt, die durch solche Verfahren nicht erfasst werden. Viele Untersuchungen und die Erfahrungen der Beschäftigten in ihrem Berufsalltag zeigen: Faktoren wie körperliche und psychische Belastungen, Schichtarbeit und zu wenig Personal können für hohe krankheitsbedingte Fehlzeiten bis hin zum Ausstieg aus dem Beruf herangezogen werden. Im Gesundheitswesen und den sozialen Diensten stehen Belastungen aus dem emotionalen und psychosozialen Bereich sogar im Vordergrund. Gleichzeitig gehören die „klassischen“ Belastungen wie kleintaktige Arbeit und Monotonie, schwere körperliche Arbeit, Lärm oder ein hohes Unfallrisiko nach wie vor zum Arbeitsalltag. Sie finden sich keineswegs nur in gewerblich-technischen Berufen, auch Teile der neu entstehenden Arbeitsplätze und Arbeitsformen im Dienstleistungssektor sind so geprägt. Mehrfachbelastungen existieren nach wie vor und nehmen eher noch zu. Dabei ändert sich die Gewichtung einzelner Belastungsarten und es ergeben sich neue Wirkungsgefüge – und zwar für Männer und Frauen.
Für 2019 plant die Bundesregierung eine Reform des Berufskrankheitenrechts. Diese Reform muss den veränderten Bedingungen an den Arbeitsplätzen und ihren jeweiligen Auswirkungen auf die Geschlechter Rechnung zu tragen. Die bestehenden Berufskrankheiten müssen auf ihre Aktualität überprüft werden, die Anerkennungsvoraussetzungen überarbeitet und die Liste der Berufskrankheiten erweitert werden. Doch die geschlechtssensible Ermittlung und Bewertung des Berufskrankheitengeschehens sollte das zentrale Reformprojekt darstellen. Besonderes Augenmerk muss auch auf die sozialpolitisch brisante Tatsache gelegt werden, dass Frauen aufgrund der aufgezeigten Missstände bisher kaum Erwerbs- oder Berufsunfähigkeitsrenten erhalten.
Dr. Margret Steffen
Europäische Gesundheitspolitik, Berufsgenossenschaft Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW), Live-In-Betreuung
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