Interview mit: Prof. Dr. Albert Nienhaus, Leiter des Fachbereichs Gesundheitsschutz der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) und des Instituts für Versorgungsforschung in der Dermatologie und bei Pflegeberufen (CVcare)
Herr Professor Nienhaus, Sie leiten das Competenzzentrum Epidemiologie und Versorgungsforschung bei Pflegeberufen (CVcare). Mit welchen Arbeitsschwerpunkten befasst sich das Zentrum?
Wir befassen uns mit den gesundheitlichen Auswirkungen der Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen und in der Wohlfahrtspflege. Wir untersuchen hier Berufsgruppen und Tätigkeitsbereiche und so ist das Spektrum unserer Forschung sehr diverse. Wir führen Studien durch, die Berufskrankheiten und die primär die Vermeidung von arbeitsbedingten Belastungen betreffen. Ferner werten wir Routinedaten von Unfallversicherungen, Krankenkassen und der Rentenversicherung aus, um mögliche Problemschwerpunkte zu identifizieren. Die unbefriedigende Qualität dieser Routinedaten macht die Auswertungen oftmals wenig aussagefähig. Deshalb ist es für uns im CVcare wichtig, eigene großangelegte epidemiologische Studien durchzuführen, um mögliche Belastungs- und Erkrankungsrisiken zu erkennen. So beteiligen wir uns an der Hamburg City Health Study, in der in den nächsten Jahren 40.000 Hamburger*innen befragt und untersucht werden. Bei dieser Studie stehen die Risikofaktoren für Herzkreislauferkrankungen im Mittelpunkt. Es werden aber auch Haut- und die Atemwegserkrankungen untersucht.
Mit einem Anteil von durchschnittlich 77 Prozent weiblicher Beschäftigter sind die Gesundheits-, Sozial- und die Erziehungsdienste dominant Frauenberufe. Spiegelt sich das in Untersuchungen über Belastungen und Beanspruchungen von Frauen in der Arbeitswelt wider?
In den Studien des CVcare ja, in der allgemeinen Forschungslandschaft nicht ausreichend. Bei unseren Studien beträgt der Frauenanteil oft über 80 %. Das war so bei unseren Befragungen zur Gewalt gegenüber Beschäftigten im Gesundheitswesen, zum Führungsverhalten, zur Mitarbeitergesundheit oder zur Arbeitssituation von Migranten in der Pflege. Mit Unterstützung der BGW beforschen wir in unserem arbeitsepidemiologischen Schwerpunkt typische Frauenberufe im Friseurhandwerk, der Pflege oder in Erziehungsberufen. Allerdings gibt es nicht viele Forschungseinrichtungen in Deutschland, die in dieser Form arbeiten. Das zeigt sich allein schon daran, dass es fast keine Förderungen für Studien in diesem Bereich von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gibt.
Im Moment arbeiten wir an einer Untersuchung, in der nur Frauen berücksichtigt werden. In den letzten Jahren ist insbesondere die BK 2108 in die Kritik geraten, mit der bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch schweres Heben und Tragen und Tätigkeiten in extremer Rumpfvorneigung erfasst werden. Wir wollen in einer Magnetresonanztomographie (MRT)-Studie prüfen, ob Frauen, die in der Pflege arbeiten, im Vergleich zu anderen Frauen einem erhöhten Risiko für Degenerationen der Bandscheiben bzw. der Lendenwirbelsäule ausgesetzt sind. In dieser Studie berücksichtigen wir nur Frauen, weil hier als eine der wenigen Berufskrankheiten, die Anerkennungskriterien für Frauen andere sind als für Männer.
Das ist interessant. Wie unterscheiden sich denn die Anerkennungskriterien bei dieser Berufskrankheit von Männern und Frauen?
Einerseits ist es die Dosis für die Druckbelastung auf die Bandscheiben, die während des Arbeitslebens erreicht werden muss. Diese ist für Frauen etwa ein Drittel niedriger als für Männer. Andererseits - noch entscheidender - ist die Schwelle für eine Spitzenbelastung zu nennen. Sie beträgt bei Frauen 4,5 Kilo Newton (kN) und bei Männern 6 kN. Bei einem Patiententransfer zum Beispiel werden 4,5 kN oft überschritten. Deshalb ist bei Frauen aus der Pflege das Kriterium der Spitzenbelastung häufiger erfüllt als bei Männern. Spitzenbelastungen wiederum sind ein Positiv-Indiz für eine berufliche Verursachung einer bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule.
Welche Art von Untersuchungen zu den Arbeitsbedingungen in der Pflege und in den sozialen Diensten liegen vor?
Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Allgemein beschreiben die meisten Studien die Belastungssituation, manche Studien analysieren auch die Ressourcen, also die positiven Aspekte der Arbeit. Das haben wir z.B. für die Beschäftigten in der Dialyse gemacht. Wir konnten so zeigen, dass es die gering ausgeprägten Ressourcen in diesem Tätigkeitsbereich sind, die den Beschäftigten das Leben schwer machen. Es gibt zum Beispiel zu wenig Entwicklungsmöglichkeiten und nur eine gering ausgeprägte Wertschätzungskultur. Wir haben dann eine entsprechende Intervention entworfen, umgesetzt und mit gutem Erfolg evaluiert. Was oft in der Forschung fehlt, ist der Vergleich mit anderen Berufsgruppen. Das wäre aber wichtig für die Frage, ob eine bestimmte Belastung für das Berufskrankheitenrecht relevant ist. Wir selber haben eine Vielzahl an Studien durchgeführt, die innerhalb einer bestehenden Berufskrankheit untersuchen, welche Berufe und Tätigkeiten besonders betroffen sind. Wir haben aber keine Studien durchgeführt, die mögliche neue Berufskrankheiten im Visier haben.
Werden Belastungen und Gefährdungen von Frauen und Männern in Berufen des Gesundheitswesens und der sozialen Dienste geschlechtsspezifisch erhoben?
Ja, das Geschlecht wird fast immer erfasst. Aber das Geschlecht wird erfasst wie das Alter oder das Rauchen. In epidemiologischen Studien ist es extrem schwer, das Geschlecht nicht nur als eine Kategorie, sondern als Konzept zu sehen, so wie es in der Genderdiskussion versucht wird. Ich kenne bisher keinen Versuch, in dem das im Rahmen von quantitativen Studien gelungen ist. Qualitative Studien, die den Kontext der Arbeits- und Lebenssituation detaillierter erfassen, können das leichter umsetzten. Dieser Studienansatz wird in der Arbeitsforschung aus meiner Sicht leider nicht genug wertgeschätzt. Allerdings sind solche Studien auch nicht geeignet, für die Weiterentwicklung des BK-Rechtes gesicherte Erkenntnisse zu liefern.
Offensichtlich bestehen unter dem Begriff „Gender und Arbeit“ noch erhebliche Lücken in der arbeitswissenschaftlichen Forschung. Was wären für Sie die wichtigsten Schritte und Forschungsthemen in diesem Feld?
Ich bin mir nicht sicher, ob „Gender und Arbeit“ primär eine arbeitsmedizinische oder arbeitsepidemiologische Forschungsfrage ist. Die Arbeitspsychologie wird sicher berührt. Ich glaube vielmehr, dass es eine politische Frage ist, die soziologisch und politologisch beforscht und unterstützt werden sollte. Der Intention ihrer Frage entsprechend würde ich abschließend sagen wir brauchen eine intensivere Erforschung der Gesundheitsrisiken verschiedener Tätigkeiten im Vergleich zu nicht-exponierten Tätigkeiten unter Berücksichtigung von Gender. Aber wir brauchen vor allem eine Fortsetzung der Diskussion um Gendergerechtigkeit in der Arbeitswelt.
Das Interview führte: Dr. Margret Steffen
Berufsgenossenschaft Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW), Arbeits- und Gesundheitsschutz
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