Digitalisierung

»Einführung von Technik ist gestaltbar«

20.02.2018

Schon heute spielt die Digitalisierung im Gesundheits- und Sozialwesen eine erhebliche Rolle, berichtet Michaela Evans vom Institut für Arbeit und Technik (IAT) der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen im Interview. Auch die interaktive Arbeit mit Menschen wird zunehmend durch Algorithmen beeinflusst. So gibt ein Viertel der Beschäftigten in Pflege und Medizin bei einer Befragung an, dass sie ihre nächsten Arbeitsschritte zunehmend nicht mehr selbständig planen können. Evans hält es für entscheidend, wie digitale Technik eingesetzt wird: Trägt sie zur Entlastung bei oder schafft sie neue Belastungen? Die Wissenschaftlerin plädiert für einen »Modernisierungsdialog« der organisierten Sozialpartner in der Branche. Ziel müssten verlässliche Rahmenbedingungen für den Einsatz digitaler Technik, für die Arbeitsgestaltung und die Entlohnung sein.

Das Gesundheits- und Sozialwesen wird Evans zufolge eine der wenigen Branchen sein, in denen in relevanter Zahl neue Arbeitsplätze entstehen. Dies sei schon »ein starkes Argument für die Notwendigkeit der Aufwertung "typischer Frauenberufe" in diesem Bereich«, sagt die Sozialwissenschaftlerin. Die Prozesse der Technikeinführung hält sie für prinzipiell gestaltbar. Sie fordert die Beschäftigten auf, sich die Technik mit ihren Gestaltungsmöglichkeiten und -risiken anzueignen. »Das ist mehr als nur Qualifizierung im Umgang mit Technik«, so Evans. »Es geht darum, sich mit Blick auf die Datenbeherrschung zu emanzipieren und die eigenen fachlichen Interessen bereits in der Technikentwicklung geltend zu machen.«

 
Michaela Evans-Borchers Michaela Evans ist Direktorin des Forschungsschwerpunktes »Arbeit und Wandel« im Institut für Arbeit und Technik (IAT) an der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen. Sie ist Co-Autorin der von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Studie »Digitalisierung im Krankenhaus. Mehr Technik – bessere Arbeit?«.

Wenn in den Medien von Digitalisierung die Rede ist, bezieht sich das in der Regel auf die Industrie. Inwiefern spielt das Thema im Gesundheits- und Sozialwesen eine Rolle?

Digitalisierung ist für die Arbeit im Gesundheits- und Sozialwesen schon heute von erheblicher Bedeutung. Auch im Vergleich mit anderen Wirtschaftsbranchen sind es vor allem Beschäftigte in diesem Bereich, die angeben, dass sie tagtäglich mit digitaler Technik umgehen. Das Spektrum ist überaus vielfältig. Es reicht, etwa in Krankenhäusern, von der Diagnostik (u.a. Befunde, Archiv), logistischen Prozessen (u.a. Materialanforderung, Übermittlung von Labordaten, Belegungs- und Bettensteuerung, Essensbestellung) über die Administration von Patientendaten und die digitale Steuerung von Versorgungsprozessen, von Monitoringsystemen für die Patientenüberwachung bis hin zum Hygiene- und Risikomanagement oder der Beschaffung von Fachinformationen im Arbeitsprozess. Neben etablierten IT-Lösungen (z.B. KIS-Systeme, digitale Patientenakten) ist auch der Einsatz von Robotik (z.B. im OP, Rehabilitation), von intelligenten Pflegewagen oder vollautomatisierten Laborstraßen zu beobachten. Insbesondere das Gesundheitsdatenmanagement gewinnt auf Basis von Big Data in Krankenhäusern an Bedeutung.

Aber auch in der Altenpflege, in der frühkindlichen Bildung oder in der Sozialen Arbeit wird immer öfter digital gestützt gearbeitet. Beispiele hierfür sind Lernassistenten in der frühkindlichen Bildung, Frühwarnsysteme in der Kinder- und Jugendhilfe, Plattformen für die Vernetzung sozialer Dienstleistungen im Quartier oder mobile Assistenzsysteme in der Altenhilfe. Entgegen der vielfach formulierten These, dass das Gesundheits-und Sozialwesen mit Blick auf digitale Technik rückständig ist, beobachten wir in der Praxis derzeit das Gegenteil: In kaum einem Wirtschaftsbereich wird schon heute so digital gestützt gearbeitet wie im Gesundheits- und Sozialwesen.

 

In kaum einem Wirtschaftsbereich wird schon heute so digital gestützt gearbeitet wie im Gesundheits- und Sozialwesen.

Michaela Evans

Es kursieren Szenarien, wonach die Digitalisierung Hunderttausende oder gar Millionen Jobs kosten könnte. Sind auch die Arbeitsplätze in der Gesundheitsbranche bedroht?

Der aktuellen Diskussion zu den Folgen digitaler Technik für die Arbeitswelt fehlt an vielen Stellen noch die analytische Tiefenschärfe. So beziehen sich entsprechende Szenarien zum Abbau von Arbeitsplätzen meist auf den Anteil routinefähiger Tätigkeiten in einzelnen Berufen. Dann wird angenommen, dass routinefähige Tätigkeiten prinzipiell durch Algorithmen bzw. Computerprogramme ersetzt werden könnten. Für das Gesundheits- und Sozialwesen prägen momentan zwei zentrale Botschaften das Bild: Einerseits wird thematisiert, dass für medizinische und nichtmedizinische Berufe rund 20 Prozent der Tätigkeiten durch Computer ersetzt werden können. Andererseits sind gerade soziale Dienstleistungsberufe durch interaktiv geprägte Arbeit in Pflege, Medizin und Sozialer Arbeit gekennzeichnet. Hier spielen Empathie und der Umgang mit Emotionen, professionelle Autonomie, der situative Umgang mit komplexen und schwierigen Situation und das direkte Zusammenspiel mit Patient/innen, Bewohner/innen, Klient/innen und Angehörigen sowie der interprofessionelle Austausch eine entscheidende Rolle. Diese Arbeit ist in erheblichem Maße durch nicht-routinefähige Tätigkeiten und Aufgabenkomplexe gekennzeichnet.

Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich Beschäftigte des Gesundheits- und Sozialwesens keine Sorgen um die Folgen digitaler Technik für ihre Arbeit machen müssen. Digitale Technik führt nicht in jedem Fall zum Ersatz menschlicher Arbeit. Dies ist derzeit eher bei an- und ungelernten Helfertätigkeiten zu beobachten. Darüber hinaus kommt es zum Outsourcing einzelner, auch hochqualifizierter Leistungsbereiche, zum Beispiel in der Radiologie. Aber auch in der interaktiven Arbeit ist zu beobachten, dass diese zunehmend durch Algorithmen beeinflusst und gesteuert wird. Im aktuellen IAT-Arbeitsreport »Digitalisierung im Krankenhaus« gaben 26 Prozent der Befragten in Pflege und Medizin an, dass die Zahl der Arbeitssituationen gestiegen ist, in denen sie Arbeitsschritte nicht mehr selbständig planen können. 42 Prozent der Befragten berichten, dass die Zahl der Arbeitssituationen, in denen der nächste Schritt durch ein Computerprogramm vorgegeben wird, ebenfalls zugenommen hat. Durch digitale Technik entstehen auch neue Aufgaben für bestehende Berufe oder sogar gänzlich neue Berufe und Tätigkeitsfelder, zum Beispiel in der Medizinischen IT und im Gesundheitsdatenmanagement. Vertiefende Analysen in der Industrie zeigen übrigens, dass sich auch hinter scheinbar routinefähigen Tätigkeiten in der Praxis durchaus komplexe Aufgaben verbergen. Auch sie sind also nicht ohne Weiteres durch Computerprogramme ersetzbar.

 

26 Prozent der Befragten in Pflege und Medizin gaben an, dass die Zahl der Arbeitssituationen gestiegen ist, in denen sie Arbeitsschritte nicht mehr selbständig planen können.

Derzeit besteht auf dem Arbeitsmarkt eine recht klare Aufteilung zwischen den Geschlechtern: Es gibt die »typischen Frauenberufe« in Pflege und Erziehung, die deutlich schlechter bezahlt sind als in der männlich geprägten Industrie. Bietet die Digitalisierung Chancen, das aufzubrechen oder dürfte sich diese Arbeitsteilung eher noch verfestigen?

In industriellen, von männlicher Erwerbsarbeit geprägten Kontexten war es bei früheren Technologieschüben durchaus so, dass höherwertige Aufgaben und Tätigkeiten entstanden sind. Dies ging mit Produktivitätsfortschritten und einer Erhöhung der Einkommen der Beschäftigten einher. Dies bedeutet allerdings nicht, dass es keine Arbeitsplatzverluste gegeben hätte. Aber der aufstrebende Dienstleistungssektor konnte gesamtgesellschaftlich den Verlust industrieller Arbeitsplätze kompensieren. Gerade im Dienstleistungssektor mit seinen frauengeprägten Berufsfeldern sind viele neue Arbeitsplätze entstanden. Nicht umsonst wird personenbezogene, soziale Dienstleistungsarbeit heute zur Recht als »heimliche Heldin« des Strukturwandels bezeichnet. Vorliegende Prognosen zur Beschäftigungsentwicklung auf Basis von Berufen und Qualifikationen legen den Schluss nahe, dass es künftig nur wenige Beschäftigungsfelder geben wird, in denen überhaupt neue Arbeitsplätze in relevantem Umfang entstehen werden. Im Gesundheits- und Sozialwesen wird dies aber der Fall sein. Zunächst ist dies ein starkes Argument für die Notwendigkeit der Aufwertung »typischer Frauenberufe« in diesem Bereich.

Nun gewinnen digitale Technologien hier erheblich an Bedeutung. Entscheidend für die Frage, ob die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung aufbricht oder sich verfestigt, sind mehrere Faktoren. Zum einen: Kann digitale Technik einen Lösungsbeitrag dazu liefern, ungünstige Rahmenbedingungen von Frauen im Berufsleben des Gesundheits- und Sozialwesens positiv zu verändern? Dazu gehören etwa verlässliche Dienstplan- und Arbeits(zeit)gestaltung, eine neue Zeit- und Aufgabensouveränität, flexible Wiedereinstiegsmodelle, arbeitsplatznahe Qualifizierungslösungen oder präventive Arbeitskonzepte. Damit wird zum anderen die Frage berührt, wie digitale Technik künftig eingesetzt wird. Trägt sie zur Entlastung bei oder schafft sie neue Belastungen? Kann Arbeit intelligenter, kompetenzfördernd und mit Blick auf die spezifischen Bedürfnisse von Patienten/innen oder Klient/innen organisiert werden? Entstehen neue Spielräume für professionelles Arbeiten oder neue Abhängigkeitsverhältnisse? Es werden Instrumente, Konzepte und Strategien gebraucht, die dazu beitragen, positive Veränderungen anzustoßen und betriebliche Spielräume zur Aufwertung der Arbeit zu schaffen.

Aber das alleine wird nicht ausreichen. Denn es ist ebenfalls relevant, ob sich unter der Bedingung von Arbeitsentlastung auch Produktivitätsfortschritte erzielen lassen. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Fachkräfteengpässe in der Pflege wäre dies ein wichtiger Schritt. Strategien, die auf eine technikgestützte Aufwertung, auf attraktive Arbeitsbedingungen und Entgelte zielen, müssen verhandelt werden. Hier haben wir derzeit die Chance, dass die organisierten Sozialpartner des Gesundheits-und Sozialwesens den Schulterschluss mit Berufs- und Patientenverbänden suchen, Chancen und Risiken digitaler Technik im Dialog erörtern und gemeinsam betriebliche Lösungen entwickeln.

Digitale Technik kann also durchaus dazu beitragen, neue Berufs- und Aufstiegschancen für Frauen und Männer im Gesundheits- und Sozialwesen zu schaffen. So lässt sich in den USA studieren, wie neue attraktive Arbeitsfelder für Pflegeberufe in gesellschaftlich relevanten Feldern durch Technik entstehen. Voraussetzung für solch ein Szenario ist allerdings, dass es ein enges Zusammenspiel der relevanten Akteure gibt. Denn, um es deutlich zu sagen: Es kann nicht darum gehen, nur einzelne höher qualifizierte Berufsgruppen zu Lasten geringer qualifizierter Beschäftigter besser zu stellen. Sondern es geht darum, Beschäftigungsverhältnisse unter Berücksichtigung aller Berufsgruppen und Qualifikationsniveaus im digitalen Wandel zu gestalten. Nicht die relative Besserstellung einzelner Berufsgruppen, sondern die objektive Besserstellung personenbezogener, sozialer Dienstleistungsarbeit insgesamt sollte das Ziel sein.

 

Es kann nicht darum gehen, nur einzelne höher qualifizierte Berufsgruppen zu Lasten geringer qualifizierter Beschäftigter besser zu stellen. Sondern es geht darum, Beschäftigungsverhältnisse unter Berücksichtigung aller Berufsgruppen und Qualifikationsniveaus im digitalen Wandel zu gestalten.

Die Überlastung der Krankenhausbeschäftigten – insbesondere in der Pflege – ist derzeit in aller Munde. Wie könnte sich der Einsatz digitaler Technik auf die Arbeitsbedingungen auswirken?

Aktuell ist ein Nebeneinander von Arbeitsplatzverlust, der Entstehung neuer Arbeitsplätze und neuer Aufgaben für bestehende Arbeitsplätze zu beobachten. Vor allem die Substitution von Helfertätigkeiten einerseits und neue Aufgaben für qualifizierte Fachkräfte andererseits prägen das Bild. Grundsätzlich sind Beschäftigte im Krankenhaus neuen Technologien gegenüber sehr aufgeschlossen. Vor allem Fachkräfte sehen in der digitalen Technik kaum eine Bedrohung für ihre Arbeit. Gleichwohl gehen sie davon aus, dass künftig Helfertätigkeiten und geringer qualifizierte Beschäftigte durch Technik ersetzt werden. Es zeigt sich bereits heute ein widersprüchliches Bild: So wird die digitale Technik von den Beschäftigten einerseits durchaus als Erleichterung, als Unterstützung für effizienteres Arbeiten sowie als Zeitersparnis wahrgenommen. Andererseits wird deutlich, dass die subjektiv empfundene Arbeitsbelastung steigt und störende Unterbrechungen im Arbeitsprozess durch Technik an der Tagesordnung sind. Vor allem die Auswirkungen digitaler Technik auf die Versorgungsqualität sind von Seiten der Beschäftigten nicht eindeutig bestimmbar. Zudem sollte nicht vergessen werden, dass sich auch Patient/innen und Angehörige mittels digitaler Technik informieren und hierdurch anspruchsvoller werden. Dies kann für die Beschäftigten in der unmittelbaren Interaktion eine Chance zur Aufwertung, aber auch eine neue Quelle für Belastungen sein.

Es können somit verschiedene Szenarien zur Entwicklung der Arbeitsbedingungen und Arbeitsqualität unterschieden werden: ein Aufwertungs- und Enablingsszenario, ein Abwertungs- und Dequalifizierungsszenario sowie ein Diffusions- und Segmentierungsszenario. Im ersten Fall stärkt digitale Technik die Beschäftigten im Arbeitsprozess und trägt zur Aufwertung der Arbeit bei. Im zweiten Fall ist die Entwertung menschlicher Arbeit, von Qualifikationen und Kompetenzen zu erwarten. Und im letztgenannten Fall hängt es von der Durchsetzungsfähigkeit klientelspezifischer Interessen ab, wer künftig die Gewinner und Verlierer im digitalen Wandel sein werden. Welches Szenario letztlich eintritt, ist grundsätzlich verhandelbar und gestaltbar. Ohne Arbeits- und Fachkräfte wird der Gesundheits- und Sozialsektor auch in Zukunft nicht auskommen können. Die jetzige Situation eröffnet die Chance, dass Arbeit- und Dienstgeber, Gewerkschaften, Berufsverbände und Kammern sich gemeinsam der arbeitspolitischen Zukunftsherausforderung stellen. Im Ergebnis braucht es verlässlich geregelte Rahmenbedingungen für den Einsatz digitaler Technik, für die Arbeitsgestaltung und die Entlohnung.

 

Könnte sich die Versorgung von Patient/innen und Pflegebedürftigen nicht verbessern, wenn die Digitalisierung an anderer Stelle Zeit spart?

Ja, dies ist auf jeden Fall möglich. Zum Beispiel, wenn alle notwendig Informationen am Patientenbett verfügbar sind, Therapiepfade erläutert oder unnötige Doppelarbeiten oder Dokumentationen vermieden werden können. Auch in punkto Medikamentensicherheit, im Überleitungsmanagement, im passgenauen Personaleinsatz oder im Training für schwierige Handlungssituationen liegen derzeit noch viele ungenutzt Potenziale für Zeitersparnis und eine bessere Versorgungs- und Arbeitsqualität. Das kommt aber nicht alleine durch mehr Technik oder unreflektierten Technikeinsatz. Entscheidend ist, dass Technikeinsatz, Arbeitsgestaltung und Personalentwicklung integrierter angegangen werden. Hier besteht noch Entwicklungsbedarf. Derzeit erleben wir in Einrichtungen, dass Technik häufig angeschafft wird und man sich erst dann Gedanken über die Qualifizierung der Beschäftigten macht. Oder es stellt sich heraus, dass die angeschaffte Technik an den eigentlichen Bedarfen und Problemen vorbei geht. Oder es wird deutlich, dass Technik sogar zu Mehrarbeit führt, weil sie dann noch zusätzlich durch Beschäftigte überwacht werden muss. Damit Technik messbare Auswirkungen in Richtung einer höheren Versorgungsqualität erzielen kann, ist ein problemorientierter Technikeinsatz sinnvoll. Dies erfordert es, diejenigen frühzeitig mit einzubeziehen, die am und mit den Patienten/innen arbeiten. Das wäre auch aus Perspektive der Einrichtungen sinnvoll. Denn es geht immer auch um die betriebswirtschaftlichen Realitäten. Technik, die nicht genutzt wird, die mehr Arbeit macht anstatt zur Entlastung beizutragen, führt letztlich zu unnötigen Kosten und senkt die Arbeitgeberattraktivität.

Durch die Digitalisierung können nicht nur die Versorgung und der Zustand der Patient/innen, sondern auch die Tätigkeiten der Beschäftigten besser kontrolliert werden. Inwiefern ist das auch problematisch?

Das ist sicherlich ein wichtiger Punkt. Allerdings ist hier zu unterscheiden zwischen den Argumenten der Sicherheit im Arbeitsprozess, des Datenschutzes und einer unerwünschten Überwachung der Beschäftigten. Voraussetzung für eine solch differenzierende Bewertung von Technik ist, dass die Beteiligten nachvollziehen können, welche Konsequenzen der Technikeinsatz für die Beschäftigten konkret hat. Dadurch, dass technologische Entwicklungen immer schneller voranschreiten, erhöht sich der Entscheidungsdruck in den Einrichtungen. Die Lösung kann aber nun nicht darin bestehen, dass Entscheidungen künftig nur schneller getroffen werden. Oder darin, dass wichtige Informationen aus Angst vor Konflikten zurückgehalten werden. Sondern es braucht vor allem qualifizierte Entscheidungen und verlässliche Entscheidungswege, bei denen selbstverständlich die Interessen der Beschäftigten, aber auch der Patienten/innen und ihrer Angehörigen berücksichtigt werden.

 

Prozesse der Technikeinführung sind gerade mit Blick auf Arbeitsgestaltung und Personalentwicklung prinzipiell gestaltbar.

Technik und Digitalisierung werden oft als objektive Prozesse dargestellt, die man nicht grundlegend ändern könne. Ist das so?

Nein, das ist nicht so. Prozesse der Technikeinführung sind gerade mit Blick auf Arbeitsgestaltung und Personalentwicklung prinzipiell gestaltbar. Vor allem in unsicheren Situationen ist es nicht nur sinnvoll, sondern geradezu notwendig, den betrieblichen und überbetrieblichen Dialog über Rahmenbedingungen des Technikeinsatzes, über Folgen und begleitende Maßnahmen zu führen. Entscheidend ist, dass nicht jeder Einflussfaktor vollständig berechenbar ist. Es bleibt immer ein Rest an Unsicherheit, an offenen Fragen und ungeklärten Schritten. Die einzige Möglichkeit besteht eben darin, sich diesen Unwägbarkeiten in einem strukturierten und verlässlichen Dialograhmen zu nähern. Gerade weil Technikeinführung mit Blick auf Versorgungsqualität, Wirtschaftlichkeit, Arbeitsqualität und die Erreichbarkeit der Patienten/innen sinnvoll sein kann, Technik aber gleichzeitig für alle Beteiligten mit vielen Unsicherheiten behaftet ist, besteht momentan eine enorme Chance für einen neuen Modernisierungsdialog der organisierten Sozialpartner. Nicht zuletzt deswegen, weil alle Beteiligten verlässliche Rahmenbedingungen brauchen.

In einem Vortrag bei der ver.di-AG Frauen und Gleichstellungspolitik haben Sie betont, man dürfe nicht nur auf die Anwendung digitaler Technik schauen, sondern müsse auch thematisieren, wer diese mit welchen Zielen entwickelt. Können Sie das erläutern?

Wir wissen schon lange, dass Technikentwicklung und Technologiepolitik nicht neutral sind, sondern durch Interessen beeinflusst werden. In jedem Computerprogramm sind die Erwartungen, Ziele und Interessen der Programmierer, ihrer Unternehmen und Anspruchsgruppen mit einprogrammiert. Dies bedeutet, dass mit der Programmentwicklung immer schon Entscheidungen darüber getroffen werden, was wichtig und was unwichtig ist. Was soll das Computerprogramm leisten? Welche Daten sollen erhoben werden? Bereits die Entwicklung eines Computerprogramms ist also ein politischer Prozess, in dem Macht und die Durchsetzung klientelspezifischer Interessen eine große Rolle spielen.

Charles Babbage (1791-1871) war gewissermaßen der Erfinder des Vorläufers des modernen Computers. Er war aber nicht nur Mathematiker und Erfinder, sondern auch ein politischer Ökonom. Dabei interessierte ihn vor allem die Frage, wie Lohnkosten durch die Aufspaltung des Arbeitsprozesses in unterschiedlich anspruchsvolle Teilprozesse gesenkt werden können. Bereits damals waren technologische Erfindungen und politische Ökonomie also eng miteinander verflochten. Es ging immer auch um die Frage, wie der Zusammenhang von Mensch, Arbeit und Maschine wirtschaftlich zielführend organisiert werden kann. Die heutigen technologischen Innovationen sind versteckter, wir können sie in ihren Ursprüngen technisch kaum nachvollziehen oder in ihren Wirkungen beschreiben. Das ist eine Gefahr, wenn die Ziele und Interessen der Technikentwicklung nicht mitreflektiert werden. Das gilt insbesondere für digitale Technik, die, etwa mit den Smartphones, Alltagstechnologie geworden ist. Insofern reicht eine Debatte um Ablehnung oder Akzeptanz von Technik nicht aus. Denn entscheidend ist, dass sich Beschäftigte im Gesundheits- und Sozialwesen mit ihrer Fachlichkeit die Technik mit ihren Gestaltungsmöglichkeiten und -risiken aneignen. Das ist mehr als nur Qualifizierung im Umgang mit Technik! Es geht darum, sich mit Blick auf die Datenbeherrschung zu emanzipieren und die eigenen fachlichen Interessen bereits in der Technikentwicklung geltend zu machen.

 

Interessenvertretung und Gewerkschaften sollten sich mit aktuellen technologischen Entwicklungen, ihren Chancen und Risiken vertraut machen.

Was bedeutet das für betriebliche Interessenvertretungen und Gewerkschaften? Wie sollten sie mit der Thematik umgehen?

Hier gibt es mehrere Ansatzpunkte. Zum einen ist es notwendig, in der betrieblichen Mitbestimmungsarbeit das Thema digitale Technik auf die Agenda zusetzen. Interessenvertretung und Gewerkschaften sollten sich mit aktuellen technologischen Entwicklungen, ihren Chancen und Risiken vertraut machen. Im betrieblichen Setting ist es zudem sinnvoll, gemeinsam mit Beschäftigten und Führungskräften konkrete Strategien für greifbare betriebliche Problemlagen zu erarbeiten und Lösungswege zu entwickeln. Die betrieblichen Partner können durch ein eigenständiges Qualifizierungs-, Entwicklungs- und Transferprogramm flankiert werden, das auf die Gestaltung guter digitaler Arbeitswelten zielt und internationale Erfahrungen sowie Erkenntnisse aus anderen Branchen mit einbezieht. Ein solches Programm sollte vor allem auch betriebliche Interessenvertretungen des Gesundheits- und Sozialwesens ansprechen.

Darüber hinaus braucht es branchenorientierte Dialogformate, die den überbetrieblichen Dialog von Arbeit- und Dienstgebern, Gewerkschaften und Interessenvertretungen im digitalen Wandel des Gesundheits- und Sozialwesens stärken und arbeitspolitische wie technologische Standards mit entwickeln. In vielen Regionen in Deutschland gibt es aktive Branchen- und Innovationsnetzwerke der Gesundheitswirtschaft. Dort treffen Einrichtungen und Technikanbieter aufeinander und entwickeln neue Lösungen. Hier sollten sich die Gewerkschaften stärker einmischen. Und schließlich eröffnet digitale Technik auch neue betriebliche und überbetriebliche Möglichkeiten der Ansprache und Beteiligung. Angesichts des weiblich geprägten Arbeitsfelder wäre es interessant, mit einer Kampagne zu zeigen, wie sich Frauen schon heute als Beschäftigte, Interessenvertreterinnen, Führungskräfte, Haupt- und Ehrenamtliche für gute digitale Arbeit im Gesundheits- und Sozialwesen engagieren.

Welche Anforderungen sind an die Arbeitgeber und die politisch Verantwortlichen zu stellen, damit die Digitalisierung im Sinne guter Arbeitsbedingungen und guter Gesundheitsversorgung gestaltet werden kann?

Der erste wichtige Punkt ist die Bereitschaft, die von Unsicherheit geprägten Prozesse der Technikentwicklung und -einführung im Dialog mit Interessenvertretungen und Gewerkschaften zu erörtern und wechselseitig tragfähige Lösungen zu entwickeln. Dies kann für Geschäftsführungen, Beschäftigte und Patienten/innen gleichermaßen ein Gewinn sein. Die Bereitschaft dazu muss aber bei allen Beteiligten vorhanden sein. Hierfür braucht es verlässliche Akteure, Rahmenbedingungen und Verfahren. Angesichts der knappen Ressourcen und zersplitterten Interessen des Gesundheits- und Sozialwesens können die politisch Verantwortlichen hierfür einen Anschub geben und notwendige Mittel zur Verfügung stellen. In anderen Wirtschaftsbranchen ist das ja durchaus heute schon der Fall. Inhaltlich sollte es zudem um mehr als um pflegepolitische Themen im engeren Sinne gehen. Im Mittelpunkt steht vielmehr eine arbeitsorientierte Innovations- und Technologiepolitik für ein sozial innovatives Gesundheits- und Sozialwesen. Momentan besteht das Risiko, dass sich die Debatte zu sehr auf klassische Themen der Pflegepolitik oder auf Teilinteressen der Pflegelandschaft fokussiert. Zudem kann der Aufbau eines Monitoringsystems sinnvoll sein, das Bedingungen, Veränderungen und Folgen des Technikeinsatz in der Arbeitswelt repräsentativ erfasst. Die Bereitschaft zum arbeitsorientierten Dialog- und Innovationsprozess der Arbeit- und Dienstgeber auf regionaler Ebene kann gezielt gestärkt werden. So wären etwa Anreize für jene Arbeit- und Dienstgeber sinnvoll, die nachweislich in einen arbeitsunterstützenden, arbeitsentlastenden und patientenorientierten Technikeinsatz investieren.