Viele Gesetze, wenig Wirkung

Deutschland hinkt bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen hinterher. Diese gut zu gestalten, ist für Betriebs- und Personalräte zentral.
03.07.2023

Die Verheißungen der Digitalisierung im Gesundheitswesen sind groß. Sie soll die Versorgung verbessern, auch im ländlichen Raum. Sie soll die Beschäftigten entlasten, damit diese mehr Zeit für ihre eigentliche Tätigkeit haben – die Pflege, Therapie und Unterstützung ihrer Patient*innen –, und auf diese Weise soll sie auch dem allgegenwärtigen Personalmangel entgegenwirken. Kein Wunder, dass dieses Thema so intensiv diskutiert wird. Bei der ersten ver.di-Digitalisierungskonferenz für das Gesundheitswesen und die Behindertenhilfe am 29. und 30. Juni in Berlin wurde allerdings deutlich: Anspruch und Wirklichkeit klaffen weit auseinander.

 
ver.di-Digitalisierungskonferenz für das Gesundheitswesen am 29./30. Juni 2023 in Berlin

Michaela Evans vom Institut Arbeit und Technik (IAT) Gelsenkirchen zeigte in ihrem Vortrag zwar auf, dass digitale Technologien in vielen Gesundheitsbereichen bereits Einzug gehalten haben – von Dokumentationssystemen über KI-basierte Personalplanung bis hin zu Patientenportalen und Beratungsangeboten über Chatbots. Dennoch hinke Deutschland beim Digitalisierungsgrad im internationalen Vergleich weit hinterher. Das, obwohl in den vergangenen Jahren nicht nur viel über Digitalisierung im Gesundheitswesen diskutiert, sondern auch etliche Gesetze zum Thema beschlossen wurden. »Viele Gesetze, viel Geld, viele Jahre Diskussion – bislang aber nur wenig messbarer Outcome für Beschäftigte und Patienten«, fasste die Wissenschaftlerin die bisherige Entwicklung zusammen. Auch bei der Forschung gebe es Defizite: »Es gibt sehr viel Forschung, aber wenige systematische Evidenz, ob digitale Anwendungen tatsächlich zu mehr Versorgungsqualität und Entlastung für die Beschäftigten führen.«

 
Michaela Evans vom IAT Gelsenkirchen bei der ver.di-Digitalisierungskonferenz in Berlin

Neue Digitalstrategie

Die Abteilungsleiterin Digitalisierung und Innovation beim Bundesgesundheitsministerium, Dr. Susanne Ozegowski, gab zu, dass die Digitalisierung im Gesundheitswesen »noch lange nicht so weit gediehen ist, wie wir es gerne hätten«. Doch das solle sich nun ändern, weshalb die Bundesregierung eine Digitalstrategie entwickelt hat. Ihr Kern ist die elektronische Patientenakte, in der alle Gesundheitsdaten der einzelnen Patient*innen zusammengeführt werden sollen. Auch darüber wird schon länger diskutiert, dennoch haben weniger als ein Prozent der gesetzlich Versicherten eine elektronische Patientenakte. Ändern soll sich das, indem die Logik umgekehrt wird: Bislang muss die elektronische Patientenakte (ePA) in einem komplizierten Verfahren beantragt werden, künftig sollen alle gesetzlich Versicherten automatisch eine solche Akte erhalten, wenn sie nicht widersprechen. Die ePA solle Basis für weitere digitale Anwendungen sein, die auf dieser aufsatteln könnten, erklärte Ozegowski, »bei strikten Datenschutz- und Datensicherheitsvorgaben«.

 
Dr. Susanne Ozegowski vom Bundesgesundheitsministerium (mit Mikrofon) debattiert mit Vertreter*innen aus der Praxis.

Über die elektronische Patientenakte und andere Digitalisierungsprojekte werde schon seit über 20 Jahren gesprochen, 19 Milliarden Euro seien ausgegeben worden, sagte der Geschäftsführer der Waldkliniken Eisenberg in Thüringen, David-Ruhen Thies. In Eisenberg habe man sich stattdessen ans Werk gemacht und eigenständig eine elektronische Patientenakte eingeführt, die freiwillig von 80 Prozent der Patient*innen genutzt werde. »Die Bedienung haben die Mitarbeiter selbst entwickelt, denn sie sind die Experten für die Arbeitsprozesse«, erklärte der Klinikmanager. Der Gradmesser sei stets, ob der Einsatz digitaler Technik Patient*innen und/oder Beschäftigten nutze. In der Thüringer Klinik sei das der Fall: Die Beschäftigten würden spürbar entlastet und hätten mehr Zeit für ihre eigentliche Arbeit. Thies sprach sich dafür aus, die elektronische Patientenakte staatlich zu organisieren. »Das ist eine hoheitliche Aufgabe, die nicht Konzerne bestimmen dürfen.« Auch Barbara Susec vom ver.di-Bereich Gesundheitspolitik betonte, die Digitalisierung dürfe nicht zu einer noch stärkeren Kommerzialisierung führen: »Gesundheit ist Daseinsvorsorge!«

Beschäftigte wollen mitgestalten

Die etwa 70 betrieblichen Interessenvertreter*innen aus dem Gesundheitswesen und der Behindertenhilfe, die zur Digitalisierungskonferenz nach Berlin gekommen waren, zeigten sich skeptisch gegenüber den Regierungsplänen. Der Physiotherapeut Victor Rohn aus Hamburg verwies darauf, dass »in der älter und ärmer werdenden Gesellschaft viele völlig überfordert sind«, wenn nur noch digitale Zugänge bestehen. Sigrid Daus, Betriebsrätin bei der München Klinik, berichtete, dass die Einführung digitaler Technik statt Entlastung allzu oft zusätzliche Belastungen schaffe. Vor diesem Hintergrund forderte sie, die Bundesregierung müsse in ihre Digitalstrategie auch die Beschäftigtenperspektive einbeziehen.

 
Barbara Susec vom ver.di-Bereich Gesundheitspolitik

Das betonte auch Grit Genster, die den ver.di-Bereich Gesundheitspolitik leitet. »Bei ver.di und den Interessenvertretungen gibt es ganz viel Wissen, wie die Digitalisierung umgesetzt wird und wo es hakt«, so die Gewerkschafterin. »Die Bundesregierung sollte das nutzen und die Beschäftigten an der Umsetzung beteiligen.« Dies gelte beispielsweise auch für das »Kompetenzzentrum Digitalisierung in der Pflege«, das die Bundesregierung unter die Regie des Spitzenverbandes der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV-SV) stellen will. »Es fehlt die Perspektive der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer«, kritisierte Barbara Susec. »Die Beschäftigten sind die Expert*innen für die Versorgungsprozesse. Sie wissen, was Sinn macht und was nicht. Deshalb müssen sie mitgestalten können.«

Investitionen nötig

 
Der Hamburger Altenpfleger und Betriebsrat Nelson Studzinski fordert mehr Investitionen.

Wenn es bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen vorangehen soll, sind große Investitionen nötig – nicht nur in den Krankenhäusern, sondern auch in der Alten- und Behindertenhilfe. Das machte der Hamburger Altenpfleger und Betriebsrat Nelson Studzinski deutlich. In den älteren Einrichtungen fehle es oft an der nötigen Infrastruktur, zum Beispiel funktionierendem WLAN. »Allein in unserem Haus bräuchten wir Investitionen von 150.000 Euro. Wo sollen die herkommen?«, fragte er. Die Abteilungsleiterin Dr. Ozegowski erklärte dazu, sie sehe angesichts der schwierigen Lage des Bundeshaushalts keine Möglichkeit, »Geld an die Einrichtungen auszuschütten«. Diese sollten sich stattdessen um Kredite bemühen.

Wie die Digitalisierung nicht laufen sollte, machte der Mitarbeitervertreter bei Agaplesion, Christfried Tetzner, an einem Beispiel deutlich. So würden Arztbriefe in dem diakonischen Konzern neuerdings mit Hilfe einer digitalen Spracherkennung erstellt, was zunächst viele positive Reaktionen in der Belegschaft hervorgerufen habe – bis sieben Kolleginnen aus dem Schreibdienst deshalb ihren Arbeitsplatz verloren. »Das war ein fatales Signal für die restliche Belegschaft – die dunkle Seite der Digitalisierung im Krankenhaus.« In anderen Fällen könnten digitale Technologien, zum Beispiel neue Kommunikationsmittel, durchaus für Entlastung sorgen, erklärte Tetzner. Der Mitarbeitervertreter sieht auch die betrieblichen Interessenvertretungen vor große Herausforderungen gestellt, zum Beispiel, wenn Beschäftigte selbst per App die Dienstplangestaltung übernehmen.

Digitalisierung braucht Regeln

 
Professor Wolfgang Däubler und ver.di-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler im Gespräch

Eine dieser Herausforderungen betrifft den Datenschutz, über den der renommierte Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler referierte. »Je mehr die Digitalisierung voranschreitet, umso mehr personenbezogene bzw. personenbeziehbare Daten fallen an«, erklärte der Professor für Deutsches und Europäisches Arbeitsrecht, Bürgerliches Recht und Wirtschaftsrecht an der Universität Bremen. Die Interessenvertretungen hätten bei dem Thema viele Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen. »Im Grunde sind sie überall, wo personenbezogene Daten erhoben werden, in der Mitbestimmung.« Zudem könne beim Datenschutz – anders als bei anderen arbeitsrechtlichen Fragen – viel durch die Zusammenarbeit mit den Aufsichtsbehörden erreicht werden.

ver.di-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler machte den Betriebs- und Personalräten sowie Mitarbeitervertreter*innen Mut, das Thema Digitalisierung anzugehen. »Wir sollten nicht in eine Abwehrhaltung gehen, aber wo es zum Schutz der Beschäftigten notwendig ist, müssen Stoppschilder gesetzt werden«, erklärte sie. »Bei der Einführung und Gestaltung der Digitalisierung braucht es Regeln – nicht nur auf politischer Ebene, sondern auch im Betrieb.« Den politisch Verantwortlichen schrieb sie ins Stammbuch, dass die Digitalisierung nicht zum Nulltarif zu haben ist. »Es braucht dafür Ressourcen. Vor diesem Hintergrund erschüttert es mich, dass das Gesundheitsministerium im Haushalt 2024 mit einer Milliarde Euro die größte Sparvorgabe hat – wie passt das mit den Ansprüchen zusammen?« Dies sei Teil heftiger werdender Verteilungskämpfe, bei der die Daseinsvorsorge nicht unter die Räder kommen dürfe. »Es ist deshalb wichtig, dass wir lauter werden – gemeinsam mit allen, die für eine gute Daseinsvorsorge stehen.«

 

Praxisforen zu den Möglichkeiten der Mitbestimmung

Intensiv befassten sich die etwa 70 Teilnehmenden der Digitalisierungskonferenz in Praxisforen mit den Möglichkeiten betrieblicher Interessenvertretungen, bei der Einführung und Umsetzung digitaler Technologien im Sinne der Beschäftigten Einfluss zu nehmen. In Forum 1 diskutierten die Kolleg*innen, wie digitale Dienstplangestaltung im Team datenschutzkonform und so organisiert werden kann, dass eine verlässliche Dienstplanung gelingt. In der Diskussion wurde zudem klar, dass die geplante Personalbesetzung keine Mindestbesetzung sein darf, sondern mögliche Ausfälle berücksichtigen muss. Ein Kollege brachte seine Aha-Erlebnis so auf den Punkt: »Im Frei muss ich nicht ans Telefon gehen.« Das Forum 2 befasste sich mit der digitalen Dokumentation. Hier habe die Interessenvertretung weitgehende Mitbestimmungsrechte bei der Schulung der Beschäftigten. Sie sollte vom Arbeitgeber offensiv ein Schulungskonzept einfordern, so ein Fazit. Im Forum 3 wurden verschiedene digitale Tools vorgestellt und Erfahrungen damit ausgetauscht. Es zeigte sich dabei, wie groß die Unterschiede im Digitalisierungsgrad der Einrichtungen sind. Das Forum 4 konnte nicht stattfinden. In Forum 5 ging es um die Auswahl von Softwareanbietern und die Mitbestimmungsmöglichkeiten in diesem Prozess. Es wurde unter anderem über Erfahrungen aus einem Krankenhauskonzern und dem Projekt der Hans-Böckler-Stiftung »Vernetzte Klinik – entlastete Pflege?« berichtet. Das Forum 6 beschäftigte sich mit dem Arbeits- und Gesundheitsschutz im Kontext der Digitalisierung. Unter anderem diskutierten die Teilnehmenden darüber, wie Gefährdungsbeurteilungen in Digitalisierungsprozessen aussehen können. Ein Kollege stellte eine Checkliste vor, die auf große Resonanz traf. In Forum 7 ging es darum, wie Digitalisierungsprozesse im Sinne Guter Arbeit praktisch gestaltet werden können. Die anwesenden Betriebs- und Personalräte sowie Mitarbeitervertreter*innen teilten ihre Erfahrungen und definierten Erfolgsfaktoren. Ein Tenor: Beschäftigte sollten als Sachverständige einbezogen werden. Sinnvoll ist die Verhandlungen von Betriebs- bzw. Dienstvereinbarungen, die für verschiedene Digitalisierungsvorhaben den Rahmen setzen.

 

Kontakt

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    Pfle­ge­po­li­ti­k, Pfle­ge­ver­si­che­rung, Di­gi­ta­li­sie­rung im Ge­sund­heits­we­sen

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