Mehrfach im Monat hat Antje B. Migräne. Oft beginnt es damit, dass sich eine gezackte Linie in ihr Gesichtsfeld schiebt und der angrenzende Bereich zunehmend verschwimmt. Anfangs geriet sie in Panik. Sie fürchtete, ihre Netzhaut könnte sich ablösen oder sie werde bewusstlos. Inzwischen weiß Antje B. nicht nur, dass bald starke Kopfschmerzen einsetzen werden. Ihr ist auch klar, was sie jetzt tun sollte: zu ihrem Smartphone greifen.
Für Menschen wie Antje B. gibt es eine Migräne-App, die die Schmerzklinik Kiel zusammen mit der Techniker Krankenkasse entwickelt hat. Sie hilft Patient*innen einzuschätzen, welche Faktoren ihr Leiden verstärken oder lindern und wann sie zu einem Akutmedikament greifen sollten. Die Nutzenden bekommen Anleitungen zur Muskelentspannung und können Beobachtungen über die Migräne-Attacken ohne viel Aufwand für den nächsten Arztbesuch dokumentieren. Eine Studie belegt, dass sich die Zahl der Kopfschmerztage mit der App deutlich senken lässt. Wer möchte, kann sie sich kostenlos aufs Handy runterladen.
Zehntausende Gesundheits-Apps sind bereits auf dem Markt. Manche Programme sind gratis, für andere werden mehrere hundert Euro fällig. Die Apps richten sich an Menschen mit Diabetes, hohem Blutdruck, Depressionen, Tinnitus, Heuschnupfen oder Rückenschmerzen. Sie sollen helfen, Blutwerte zu messen, Medikamente regelmäßig einzunehmen oder Übungen nicht zu vergessen. Entwickelt werden die digitalen Hilfsprogramme von Startups, Pharmaunternehmen, wissenschaftlichen Einrichtungen oder Krankenkassen. Und dahinter stehen sehr unterschiedliche Interessen.
Bald gibt es Medizin-Apps auch auf Rezept, denn seit Anfang des Jahres gilt das Digitale-Versorgungs-Gesetz (DVG). Bei der Verabschiedung im Bundestag hatte Gesundheitsminister Jens Spahn verkündet: "Wir werden das erste Land auf der Welt sein, das Wildwest bei den Apps von heute beendet." Das war deutlich zu vollmundig, denn anderswo ist man schon weiter. So hat die Schweiz bereits einen Kriterienkatalog für Medizin-Apps, für deren Einhaltung die Kompetenzstelle für digitale Gesundheit zuständig ist. Auch der britische nationale Gesundheitsdienst hat eine übersichtliche Liste mit klaren Empfehlungen veröffentlicht.
In Deutschland obliegt die Zulassung als verschreibungsfähiges Medizinprodukt dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Hersteller können dort demnächst ihre App anmelden. Spätestens nach drei Monaten sollen sie wissen, ob es ihr Produkt auf die entscheidende Liste der Apps geschafft hat, die Ärzte auf Kosten der Krankenkassen verschreiben können. Das Ministerium hofft, dass es im zweiten Quartal mit den Apps auf Rezept losgehen kann.
Allerdings ist noch nicht bekannt, was genau das BfArM prüfen soll. Mitte Januar arbeiteten die Beamt*innen noch an der Rechtsverordnung. Der Pressereferent beim Bundesgesundheitsministerium aber versichert, dass die Anforderungen an Sicherheit, Funktionstauglichkeit, Qualität und Datenschutz bald veröffentlicht werden. Dabei scheint schon jetzt sicher, dass keine wissenschaftlich fundierten Expertisen zur Wirksamkeit vorgelegt werden müssen. Vielmehr sollen Apps ein Jahr lang auf Probe zugelassen und von den Krankenkassen bezahlt werden. Erst danach müssen die Hersteller den Nutzen darlegen. "Es fehlen bislang verlässliche Nachweise einer gesundheitsfördernden oder präventiven Wirkung. Dieser Nachweis muss erbracht sein, bevor sie in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherungen aufgenommen werden", hatte ver.di in einer Stellungnahme zum Gesetz gefordert und auch kritisch auf die noch unklaren Kosten für die Versichertengemeinschaft hingewiesen.
Zuverlässige Belege für die Wirksamkeit von Apps werden in vielen Fällen schwer beizubringen sein. Die Entwicklungszyklen auf dem App-Markt sind kurz, und die bestehenden Angebote werden ständig verändert. Fundierte Untersuchungen dagegen brauchen Zeit und Geld. Der Spitzenverband der Krankenkassen hält es deshalb für fraglich, ob es nach einem Jahr tatsächlich zu der geforderten Qualitätsbewertung kommt. Wissenschaftliche Studien können außerdem zu unliebsamen Ergebnissen für die Hersteller führen. So berichtet die Deutsche Tinnitus Liga in Bezug auf die App Tinnitracks, dass die Verfremdung von Musik keinen positiven Effekt für Menschen hat, die ständig klingelnde oder summende Phantomgeräusche hören, und verweist auf eine Untersuchung der Universität Münster. Trotzdem erstatten mehrere Krankenkassen Patienten bereits Jahresabos für die App.
Keine positive Wirkung durch ein Medizinprodukt ist ärgerlich. Aber können Apps auch schaden? Davor warnt der Präsident der Psychotherapeutenkammer Dietrich Munz: "Für einen depressiven Menschen ist es meist eine erhebliche Anstrengung, sich trotz seiner überwältigenden Gefühle der Niedergeschlagenheit und Antriebslosigkeit psychotherapeutisch behandeln zu lassen. Misserfolge durch gar nicht oder zu wenig wirkende Apps untergraben die Therapiemotivation und können zu einer substanziellen Verschlechterung der Erkrankung führen."
Auch die Studie Charismha des Instituts für medizinische Informatik in Hannover, die Spahns Amtsvorgänger Hermann Gröhe in Auftrag gegeben hatte, weist auf vielfältige Risiken durch Gesundheits-Apps hin und sieht großen Forschungsbedarf. So müsste nicht nur sichergestellt werden, dass die Geräte richtig messen, sondern auch, dass die Nutzenden das Gerät korrekt einsetzen und die Daten richtig interpretieren. "Bisher hat sich da nichts geändert. Wir alle warten darauf, was in der Rechtsverordnung steht", sagt Urs-Vito Albrecht von der Medizinischen Hochschule Hannover. Ärzte und Psychotherapeuten warnen zudem davor, dass Menschen durch Lifestyle-Apps nicht mehr ihrer eigenen Körperwahrnehmung vertrauen, sondern sich zunehmend auf ihre Smartphones als Kontrolleure verlassen. Selbstdiagnosen können Krankheitsängste auslösen oder verstärken. Dafür gibt es sogar schon einen Fachbegriff: Cyberchondrie.
Nicht nur ver.di, auch die Verbraucherzentrale rät noch aus anderen Gründen zur Vorsicht: "Als Nutzer wissen Sie bei vielen Apps nicht, wem sie sensible Daten anvertrauen. Schon der Download einer App hinterlässt Spuren." In der Regel werden Ärzte ihren Patienten einen Code mitgeben, damit sie die App auf Rezept herunterladen können. Doch wie sicher sind Google-App-Stores und andere Vertriebskanäle? Und was geschieht mit den Daten der Patient*innen? Werden sie zur Verbesserung der Produkte genutzt? Und wie und wo werden sie verarbeitet?
Zwar hat das BfArM den Auftrag, für Datenschutz zu sorgen. Doch alles spricht dafür, dass sich die Behörde auf Sicherheitszertifikate verlassen wird, die die Hersteller vorlegen. "Auf dem Chaos Communication Congress letzten Jahres wurden viele Apps zerlegt, die teils Zertifikate von Datenschutzbehörden trugen", berichtet der IT-Sicherheitsanalyst Martin Tschirsich im Interview mit MedWatch. Mehrfach konnten Hacker auch demonstrieren, dass die überaus populäre Gesundheits-App Ada gravie-rende Sicherheitsmängel aufweist. Sie überträgt Informationen sogar an Facebook, selbst wenn die Nutzenden dort gar kein Konto haben. Gerade bei sensiblen Gesundheitsdaten aber muss es um höchste Vertraulichkeit gehen.
Ein Artikel aus der Publik. Autorin: Annette Jensen
Pflegepolitik, Pflegeversicherung, Digitalisierung im Gesundheitswesen
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