digitale Technik

Bei Digitalisierung Einfluss nehmen

Eine Studie zeigt Möglichkeiten betrieblicher Interessenvertretungen in der Altenpflege, digitale Technik mitzugestalten – und die Faktoren, die sie vielfach noch davon abhalten. Interview mit Christine Ludwig, Wissenschaftlerin im Forschungsschwerpunkt »Arbeit und Wandel« am Institut Arbeit und Technik (IAT) in Gelsenkirchen. Gemeinsam mit Fikret Öz, Michaela Evans und Leonie Hecken hat sie die Studie »Mitbestimmte Digitalisierung in der Altenpflege?« veröffentlicht.
16.09.2020
Digitalisierung als Thema von ver.di-Aktiven in den Betrieben des Gesundheits- und Sozialwesens

In Ihrer Studie geht es um Digitalisierung in der Altenpflege. Spielt digitale Technik in diesem Bereich überhaupt eine größere Rolle?

Im Zentrum der Pflege steht die Interaktion mit Menschen. Deshalb meinen manche, dass digitale Technik hier keine Rolle spielt. Das ist aber nicht so. Die Digitalisierung geht auch an der Altenpflege nicht vorbei. Klar ist, dass der Einsatz digitaler Technik in der direkten Pflege selbst begrenzt ist. Aber um die Pflege herum kann sie eine wichtige und sinnvolle Rolle spielen, zum Beispiel bei der Dokumentation sowie der internen und externen Kommunikation.

Aus unserer Forschung wissen wir, dass die meisten Pflegekräfte technischen Neuerungen durchaus offen gegenüberstehen. Allerdings haben sie häufig auch die Erfahrung gemacht, dass sich ihr Stress durch die Einführung neuer Technologien nicht verringert, sondern noch vergrößert hat. Die Versprechungen, durch den Technikeinsatz würden Pflegekräfte entlastet und hätten mehr Zeit für die pflegebedürftigen Menschen, werden oft nicht eingelöst. Deshalb sind viele Pflegende zu Recht auch skeptisch.

 
Christine Ludwig

Sie haben die Rolle der betrieblichen Interessenvertretungen bei der Einführung digitaler Technologien untersucht. Warum ist diese wichtig?

Die Bedürfnisse der Beschäftigten werden bei der Einführung neuer Technologien oft nicht ausreichend berücksichtigt. Aufgabe der betrieblichen Interessenvertretung ist es, diese zur Geltung zu bringen. Denn die Hoffnung auf Entlastung durch Technik ist an sich nicht unrealistisch, sie ist aber kein Selbstläufer. Sie muss erkämpft werden. Damit nicht nur die Interessen der Technikentwickler und der Geschäftsleitungen zum Tragen kommen, sondern auch die der Pflegekräfte.

Das heißt: Betriebs- und Personalräte sowie Mitarbeitervertretungen in der Altenpflege sollten sich für Digitalisierung interessieren. Tun sie es denn?

Unsere Befragung zeigt, dass die meisten Interessenvertretungen das Thema auf dem Schirm haben. Drei von fünf Gremien sagen, die Digitalisierung sei für sie »wichtig« oder sogar »strategisch wichtig«. Fast genauso viele glauben, dass das Thema in Zukunft noch an Bedeutung gewinnen wird.

Haben die Interessenvertretungen denn das Gefühl, auf Digitalisierungsprozesse Einfluss nehmen zu können?

Da sind die Befragten eher skeptisch. Zusammengenommen halten ungefähr 90 Prozent ihren Einfluss nur für »gering« oder »mittelgroß«. Andererseits nehmen drei von vier Befragte die betrieblichen Arbeitsbeziehungen insgesamt als konstruktiv und lösungsorientiert wahr. Das ist eigentlich eine gute Grundlage. Wir meinen: Wenn sich die Interessenvertretungen bei dem Thema fit machen, können sie durchaus Einfluss nehmen.

Eine Möglichkeit zur Einflussnahme sind Dienst- bzw. Betriebsvereinbarungen. Wie stark werden diese in Bezug auf die Digitalisierung genutzt?

Mehr als zwei Drittel der Befragten geben an, dass betriebliche Vereinbarungen beim Thema Digitalisierung eine geringe oder gar keine Rolle spielen. Wir wissen aus anderen Branchen, dass vor allem prozedurale Vereinbarungen sehr sinnvoll sind, die mitbestimmte Verfahren bei der Einführung digitaler Technik festschreiben. Sind die Regelungen zu konkret, werden sie oft schnell von der technischen Entwicklung überholt. Prozedurale Vereinbarungen sind in der Altenpflege bislang selten. Allerdings zeigt unsere Befragung, dass viele Gremien dabei sind, ein betriebliches Verfahren zur Technikeinführung aufzubauen oder das zumindest planen.

Welche Faktoren halten Interessenvertretungen in der Altenpflege davon ab, sich beim Thema Digitalisierung wirkungsvoll für die Belange der Beschäftigten einzusetzen?

Der wichtigste Faktor ist eindeutig die Überlastung. Die Interessenvertreter*innen sagen, ihnen fehle die Zeit, sich intensiv genug mit der Digitalisierung zu befassen. Es gibt einfach zu viele andere drängende Themen. Wir haben zudem danach gefragt, ob die Gremien Instrumente zur Mitarbeiterbeteiligung nutzen. Auch hier haben viele erklärt, dass sie das aus Zeit- und Ressourcenmangel nicht tun.

 

In den Pflegeeinrichtungen fehlt es überall an Personal, die Arbeitsbedingungen sind extrem belastend und die Bezahlung vielerorts unzureichend. Ist es da nicht verständlich, dass den Interessenvertretungen keine Zeit bleibt, sich mit Fragen der Digitalisierung zu befassen?

Verständlich schon. Aber wie gesagt: Die Digitalisierung geht an der Altenpflege nicht vorbei. Den Gremien bleibt daher gar nichts anderes übrig, als sich mit dem Thema auseinandersetzen. Es wird letztlich weniger Frust produzieren, wenn sie sich proaktiv und vorausschauend in die Digitalisierungsvorhaben einbringen. Zumal sich viele der anderen brennenden Themen mit der Digitalisierung verknüpfen lassen – zum Beispiel die Personalgewinnung, die Weiterbildung oder die Verbesserung der Kommunikation nach innen und außen.

Ist nicht ein weiteres Hemmnis, dass sich viele Interessenvertreter*innen beim Thema Digitalisierung nicht für kompetent genug halten?

Das stimmt. Hier gilt es, sich weiterzubilden. Allerdings verfügen die Interessenvertreter*innen auch über ganz viel Expertise in Bezug auf die betrieblichen Abläufe sowie Bedarfe und Hemmnisse bei der Digitalisierung. Deshalb ist die Hemmschwelle oft nicht gerechtfertigt.

Heißt das nicht auch, dass die Unternehmen diese Expertise der Interessenvertretungen und der Beschäftigten bei der Einführung neuer Technologien nutzen sollten?

Auf jeden Fall. Interesse der Unternehmen ist es, dass Digitalisierungsvorhaben auch tatsächlich die mit ihnen verbundenen Ziele erfüllen. Das klappt nur, wenn die Lösungen bedarfsgerecht, passgenau und an den Nutzer*innen orientiert sind. Hierfür ist die Einbeziehung der Beschäftigten und ihrer Interessenvertreter*innen unerlässlich – und das sowohl bereits im Vorfeld der Anschaffung als auch bei der Einführung und der Begleitung bzw. Nachsteuerung.

Wie kann der Gesetzgeber dafür sorgen, dass die betrieblichen Interessenvertretungen bei der Einführung digitaler Technik besser einbezogen werden?

Er könnte sie beispielsweise zur Voraussetzung für öffentliche Förderung von Digitalisierungsvorhaben machen. Ein Beispiel ist die Sozialpartnerrichtlinie im Land Brandenburg. Diese sieht vor, dass Pflegeeinrichtungen Beratungsleistungen in Anspruch nehmen können – aber nur dann, wenn sie betriebliche oder überbetriebliche Sozialpartner dabei einbinden. So können Einrichtungen doppelt profitieren: Sie bekommen Unterstützung in Veränderungsprozessen und zusätzlich verbessert sich der betriebliche Dialog.

Die gesamte Studie gibt’s hier zum Download.

 

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