Die Zeit ist abgelaufen. »Null Tage« steht auf den Plakaten, die hunderte Krankenhausbeschäftigte am Freitag (16. August 2024) im Stadion des Fußball-Oberligisten SV Arminia Hannover in die Höhe halten. 100 Tage hatten sie der niedersächsischen Landesregierung und dem Management der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) gewährt, um Verhandlungen mit ver.di über einen Tarifvertrag Entlastung aufzunehmen. Doch es passierte: nichts. Die Beschäftigten machten auf der Stadiontribüne lautstark klar, welche Konsequenz das hat: Arbeitskampf.
»Politik und Arbeitgeber hatten 100 Tage Zeit, nachzudenken und eine Lösung zu finden. Das haben sie nicht genutzt«, erklärte David Matrai, der bei ver.di in Niedersachsen für das Gesundheitswesen zuständig ist. Entsprechend groß war die Empörung, die Wissenschaftsminister Falko Mohrs (SPD) im Stadion entgegenschlug. »Ich sehe die Belastung und dass es unbedingt mehr Beschäftigte braucht«, sagte der Politiker. Der geforderte Tarifvertrag Entlastung könne dennoch nicht abgeschlossen werden, weil die Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) dies ablehne. Gewerkschafter Matrai hielt dem entgegen, dass auch in etlichen anderen Universitätskliniken Entlastungs-Tarifverträge vereinbart wurden, der Länder-Tarifvertrag dort aber weiterhin gilt. »Warum sollte das, was anderswo geht, nicht auch in Hannover möglich sein? Ob die Landesregierung den Weg zu Tarifverhandlungen frei macht, ist eine Frage des politischen Willens.«
Damit die Verantwortlichen diesen Willen entwickeln, wollen die MHH-Beschäftigten den Druck nun massiv erhöhen. Ab Mittwoch will ver.di die Kolleg*innen zu einem dreitägigen Warnstreik aufrufen. Für Freitag ist eine Großdemonstration mit Unterstützer*innen aus der Bevölkerung geplant. Schon die Versammlung der Teamdelegierten im Stadion machte sichtlich Eindruck. »Das ist ein kraftvolles Signal, das mich sehr beeindruckt«, sagte die SPD-Abgeordnete Silke Lesemann. »Der tiefsitzende Ärger und die Wut sind deutlich wahrzunehmen.« Eva Viehoff von den Grünen, die gemeinsam mit der SPD die Regierung stellen, sagte, die Politik müsse »noch intensiver nachforschen, wie wir eine Lösung finden, um den Weg zu einem Tarifvertag Entlastung gehen zu können«.
Das Angebot, stattdessen eine Dienstvereinbarung abzuschließen, wiesen die Kolleg*innen unüberhörbar zurück. Eine solche Vereinbarung sei weder verbindlich noch erstreikbar, so der Tenor vieler Beiträge. Der niedersächsische DGB-Vorsitzende Mehrdad Payandeh verwies zudem darauf, dass ein Tarifvertrag viele Vorteile hat – zum Beispiel bei der Refinanzierung durch die Krankenkassen. Vor allem aber werden Tarifverträge von der Gewerkschaft ausgehandelt, unter Federführung der ehrenamtlichen Tarifkommission und mit Unterstützung der Teamdelegierten. Auch die ver.di-Landesbezirksleiterin Andrea Wemheuer betonte, die ver.di-Tarifkommission müsse Verhandlungspartnerin sein. »Sie haben meine Nummer«, sagte sie an die Adresse des Wissenschaftsministers. »Sie können jederzeit anrufen, um über Lösungen ins Gespräche zu kommen.«
An der Entschlossenheit der MHH-Belegschaft, einen Entlastungstarifvertrag gegen alle Widerstände durchzusetzen, dürfte nach der Stadion-Versammlung jedenfalls kein Zweifel mehr bestehen. Mehr als 130 Teams haben in den vergangenen Wochen konkrete Forderungen zur Personalbesetzung für ihre Bereiche entwickelt und ihre Bereitschaft erklärt, aktiv dafür einzutreten. Wird die vereinbarte Schichtbesetzung drei Mal unterschritten oder entstehen anderweitig belastende Situationen, sollen die Betroffenen als Ausgleich jeweils einen freien Tag erhalten. Zur Verbesserung der Ausbildungsqualität soll der Anteil der Praxisanleitung auf 20 Prozent verdoppelt und zur Hälfte mit Eins-zu-Eins-Betreuung umgesetzt werden.
»Wir sind es wert, gut ausgebildet zu werden«, sagte Nina Linabaptista, die eine Ausbildung zur Pflegefachfrau absolviert. Dazu gehörten gute Praxisanleitung und bessere Bedingungen in der Pflegeschule. »Das sind Sie uns schuldig – und allen Patientinnen und Patienten, die wir in unserem Arbeitsleben betreuen werden«, so die Auszubildende gegenüber den versammelten Politiker*innen. »Wenn Sie sich nicht bewegen, sehen wir uns gezwungen, uns zu bewegen – auf der Straße.«
»Die Belastung wird immer größer. In jedem Dienst muss ich abwägen, welche Patient*innen mich am dringendsten brauchen. Ich würde aber gerne auf die Bedürfnisse aller eingehen können. Empathie braucht Zeit. Ich möchte in Ruhe mit Kindern und Angehörigen sprechen können, die Zuwendung brauchen. Die Zustände sind schon lange schlecht. Aber ich bin überzeugt: Jetzt können wir etwas erreichen – als Pflegekräfte gemeinsam mit den Kolleg*innen aus der Therapie, dem Labor, dem Transport und allen anderen Bereichen. Krankenhausalltag ist Teamarbeit. Zusammen können wir einfach mehr durchsetzen. Endlich werden wir gehört. Wir kommen aus der Spirale des Meckerns raus, formulieren konkrete Forderungen und kommen in Aktion. Das macht mich glücklich.«
Magdalena Romanow, Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin
»Jede von uns hat einfach zu viele Patientinnen und Patienten. Jeden Morgen müssen wir entscheiden: Wer bekommt eine Behandlung, wer nicht? Das heißt: Jeden Tag Gewissensbisse. Weil man die Patient*innen nicht so unterstützen kann, wie es nötig und sinnvoll wäre. Der Heilungsprozess verzögert sich, die Lebensqualität leidet. Das wollen wir ändern. Wir brauchen endlich klare Vorgaben, wie viel Personal da sein muss. Jetzt ist es jedes Mal ein Kampf, dass freie Stellen neu besetzt werden – das dauert oft Monate. Damit muss Schluss sein. Mit einem Tarifvertrag Entlastung wird die MHH wieder attraktiver für Beschäftigte. Gerade während der Corona-Pandemie sind viele ausgestiegen – nicht nur in der Pflege, sondern auch in den Therapieberufen. Wenn sich die Arbeitsbedingungen verbessern, kommen hoffentlich einige wieder zurück. Das ist unser Ziel.«
Franzi Baacke, Logopädin, Antje Luiking, Ergotherapeutin, Birgit Seliger, Physiotherapeutin (v.l.n.r.)
»Auch im Transport sind wir chronisch unterbesetzt. Ständig müssen Kollegen kurzfristig in anderen Bereichen aushelfen oder sogar aus dem Frei einspringen. Wir stopfen nur noch die Löcher. Das bringt Frust und macht die Leute krank. Im Schnitt laufen wir 20 Kilometer am Tag, am Feierabend ist man total ausgelaugt. Früher gab es Zeit, um auch mal mit Patientinnen und Patienten ein Gespräch zu führen, ihnen zuzuhören, die Ängste zu nehmen. Das geht heute gar nicht mehr. Im Krankentransport sind wir zurzeit etwa 40 Kollegen. Wir fordern acht feste Stellen mehr. Das würde die Situation entspannen und die Möglichkeit geben, einige Kollegen aus der Servicetochter fest einzustellen. Im Moment haben sie deutlich schlechtere Bedingungen. Das ist ungerecht. Dass sich nun alle gemeinsam gegen die Zustände wehren, ist wunderbar. Die Solidarität unter den Berufsgruppen ist riesig. Seit ich arbeite, bin ich in der Gewerkschaft. So gut wie jetzt waren wir noch nie aufgestellt. Wir werden den Tarifvertrag Entlastung durchsetzen.«
Detlef Bruse (Dete), Krankentransport
»Wir möchten, dass sich die Frauen bei der Geburt geborgen fühlen und gut beraten werden. Wir wollen sie in dieser Situation nicht allein lassen müssen. Deshalb fordern wir für den Kreißsaal eine Eins-zu-eins-Betreuung. Studien zeigen, dass bei einer solchen Personalbesetzung seltener Interventionen nötig sind. Unser Team steht voll hinter dieser Forderung. Die ganze MHH zieht mit, deshalb sind wir sicher: Gemeinsam können wir etwas erreichen. Im Rahmen der Tarifrunde waren wir schon mal beim Warnstreik dabei. Aber jetzt geht es nicht nur ums Geld, sondern um bessere Arbeitsbedingungen – das ist noch wichtiger. Deshalb sind wir ver.di beigetreten. Uns ist klar geworden, was wir alles bewegen können – wenn wir uns zusammentun.«
Noelia Stiegelmeier, Kristin Könneke und Luca Marie Niederhöfer (v.l.n.r.), Hebammen im Kreißsaal.
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