Holen aus dem Frei

Grenzen setzen

06.10.2017

Wer kennt das nicht? Endlich mal einen Tag frei – und dann kommt der Anruf aus der Klinik: Ob man nicht doch zur Arbeit kommen könne, leider sei jemand ausgefallen. Überall ist die Personaldecke so dünn, dass Ausfälle nicht kompensiert werden können. Die Beschäftigten sollen in die Bresche springen – auf Kosten ihrer Freizeit, ihrer sozialen Beziehungen und ihrer Gesundheit.

»Im Moment ist es ganz schlimm«, sagt Manuela Rasmussen, die auf einer internistischen Station im Städtischen Krankenhaus Kiel arbeitet. »Es vergeht fast kein Tag, an dem nicht jemand in seiner Freizeit angerufen und gefragt wird, ob er einspringen kann.« Sie selbst ist dazu nicht mehr bereit. »Wenn wir immer bereitstehen, werden sie nie mehr Personal einstellen«, ist die 55-Jährige überzeugt. Doch viele Pflegekräfte würden moralisch unter Druck gesetzt. Manchmal werde sogar mit Dienstverpflichtung gedroht. »Vor allem die Jüngeren lassen sich das gefallen, weil sie ihre Rechte nicht kennen.«

 

Kaffeepause: Frei haben oder nicht?

Fakt ist: Niemand ist verpflichtet, während seiner Freizeit erreichbar zu sein, schon gar nicht, spontan und außerhalb des geplanten Dienstes, in den Betrieb zu kommen. »Es gibt keine rechtliche Grundlage, auf die sich eure Klinikleitung berufen und sagen kann: Ihr müsst an diesem Tag aus eurem Frei kommen«, stellt die Kinderkrankenpflegerin Nicki in einem Beitrag für ver.di-TV klar. Ihre Kollegin Steffi betont: »Dieser eine freie Tag ist ja dafür da, dass ihr euch erholt, dass ihr wieder zu Kräften kommt, (…) damit ihr eben gute Pflege leisten könnt.«

Doch vielfach fühlen sich Beschäftigte moralisch unter Druck gesetzt. Sie wollen die Patientinnen und Patienten, aber auch ihre Kolleginnen und Kollegen nicht hängen lassen. Das Schlimme ist: Arbeitgeber nutzen dieses Verantwortungsgefühl und die Kollegialität gnadenlos aus. Sie verlassen sich darauf, dass Beschäftigte ihre Rechte nicht wahrnehmen und ihre Gesundheit aufs Spiel setzen – um Personal zu sparen.

Wie weit verbreitet das ist, zeigt eine Online-Befragung aus dem vergangenen Jahr. Demnach müssen nur vier Prozent der Pflegekräfte in Krankenhäusern nicht kurzfristig Schichten übernehmen. Bei über einem Drittel kommt das drei bis fünf Mal im Monat oder noch häufiger vor.

 
Kein Einzelfall...

Für etwa zwei von drei Pflegekräften ist das Einspringen eine Belastung, weil es das Privatleben unplanbar macht (65 Prozent), Freizeit verloren geht (62,9 Prozent) und dadurch Zeit für Erholung fehlt (66,5 Prozent). 85 Prozent springen ein, weil sie sich unter Druck fühlen, ihr Team nicht hängen zu lassen.

Doch der Trick der Arbeitgeber funktioniert nicht mehr überall. Manche Teams drehen den Spieß um. Sie beschließen, das Einspringen kollektiv zu verweigern, falls das Management nicht konkrete Verbesserungen umsetzt. Dieses Ultimatum wird der Geschäftsleitung öffentlich bekannt gegeben. In vielen Fällen musste sie reagieren und Maßnahmen ergreifen, um die Arbeitsbelastung zu verringern. Mehrere Teams am Berliner Uniklinikum Charité – wo Pflegekräfte jeden Monat rund 1.000 Mal in ihrer Freizeit angerufen werden – haben diese Methode mit Erfolg praktiziert. Auch in Stuttgart, im Saarland und anderswo ist das gelungen.

 

Teamversprechen - gemeinsam stark

Jessica Medrano

»Wenn es um Aktionen für Entlastung geht, ist mein Team immer dabei. Wir haben den Aktionstag Händedesinfektion am 12. September 2017 komplett durchgezogen. Und eine Woche später haben wir kollektiv in der Cafeteria Pause gemacht. Damit zeigen wir: Um die Arbeit zu schaffen und dabei nicht krank zu werden, brauchen wir mehr Personal. Vorher haben sämtliche Kolleginnen und Kollegen einander versprochen, dass sie mitmachen. Dieses »Teamversprechen« haben alle unterschrieben, selbst Leute aus dem Stellenpool und Kolleginnen, die gar nicht mehr auf unserer Station sind. So machen wir klar: Das Team hält zusammen – von der Leitung bis zur Reinigungskraft. Das klappt super. Bei den nächsten Aktionen sind wir sicher wieder mit dabei.«

Jessica Medrano ist Gesundheits- und Krankenpflegerin auf einer Station für Hepatologie und Gastroenterologie im Uniklinikum Essen.

 

 

Und es bleibt nicht bei Aktionen in vereinzelten Häusern: Im Herbst werden Stations- und Bereichsteams in über 100 Krankenhäusern Grenzen setzen und die ständigen Eingriffe in ihre Zeit- und Lebensplanung verweigern. Damit machen sie vor und nach der Bundestagswahl deutlich: Gesetzliche Vorgaben zur Personalausstattung sind nötig.

Grenzen setzen ist angesagt. Das meint auch die Kieler Krankenschwester Manuela Rasmussen. »Wenn die Leute permanent über ihr Limit gehen, werden sie krank, und dann müssen wieder andere einspringen – ein Teufelskreis.« Auch das soziale Leben leide. »Wie soll man Freundschaften pflegen, sich um die Familie kümmern, in der Freizeit aktiv sein, wenn man nie sicher sein kann, dass Freizeit auch Freizeit ist?« In ihrem Krankenhaus wird zwar ein sogenanntes Ausfallmanagement entwickelt. Doch variable Dienste oder zusätzliche Bereitschaftszeiten werden das Problem nicht lösen, ist Rasmussen überzeugt. »Verlässliche Arbeitszeiten sind unerlässlich. Dafür braucht es genug Personal.«

 
Schwarzes Brett: Verlässliche Arbeitszeit

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