Wütend, laut und kämpferisch – so präsentierten sich die Teilnehmer*innen des rheinland-pfälzischen »Pflegeaufstands« am 11. September 2021 in Mainz. Etwa 800 Beschäftigte aus Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen zogen in einem langen Demonstrationszug durch die Mainzer Innenstadt und machten klar, dass sie eine bessere Gesundheitspolitik erwarten. Auch in Mannheim und Hannover protestierten Gesundheitsbeschäftigte für mehr Personal, gute Bezahlung und eine bedarfsgerechte Finanzierung.
»Die Pflege hat gelernt aufzustehen. Das ist vor der Bundestagswahl ein richtig gutes Signal an die Parteien: Glaubt nicht, dass wir Ruhe geben«, sagte das ver.di-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler bei der Abschlusskundgebung auf dem Mainzer Ernst-Ludwig-Platz. »Die Rahmenbedingungen müssen sich verändern, und das nicht nur ein bisschen, sondern radikal – radikal SOZIAL, das ist das Motto unseres ver.di-Fachbereichs!« Die vielen Proteste der vergangenen Jahre hätten einiges in Bewegung gebracht, betonte die Gewerkschafterin. Doch am Ziel sei die Bewegung erst, wenn die Entlastung im Alltag der Beschäftigten ankomme – und das sei noch längst nicht der Fall.
Mit Blick auf die Bundestagswahl betonte die Leiterin des ver.di-Fachbereichs Gesundheit und Soziales, es sei »nicht egal, wer dieses Land regiert«. Deutliche Kritik äußerte sie am amtierenden Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Dieser habe die von ver.di gemeinsam mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft und dem Deutschen Pflegerat vorgelegte bedarfsgerechte Personalbemessung in der Krankenpflege, die PPR 2.0, nicht umgesetzt und die Erstreckung des von ver.di mit der Bundesvereinigung der Arbeitgeber in der Pflegebranche (BVAP) ausgehandelten Tarifvertrags auf die gesamte Altenpflege hintertrieben. »Damit ist er mit verantwortlich dafür, dass tausende Kolleginnen und Kollegen in der Altenpflege weiterhin keine sichere Perspektive haben auf einen anständigen Lohn – das ist echt dreist«, kritisierte Bühler.
Die nächste Bundesregierung müsse die richtigen Schlussfolgerungen aus den Erfahrungen in der Corona-Pandemie ziehen. Dazu gehörten bedarfsgerechte Personalvorgaben und die Zurückdrängung der Kommerzialisierung, »die unser Gesundheitswesen kaputtmacht«. Das Finanzierungssystem der Krankenhäuser über Fallpauschalen (Diagnosis Related Groups, DRG) müsse abgeschafft und durch eine bedarfsorientierte Finanzierung ersetzt werden.
Das ist auch für den Krankenpfleger Gerhard Diea vom Westpfalz-Klinikum Kaiserslautern ein wichtiges Anliegen, der ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift »FCK DRG« angezogen hat. »Mit den Fallpauschalen geht es für die Krankenhäusern nur noch darum, so viele lukrative Fälle wie möglich zu machen, nicht mehr in erster Linie um die bestmögliche Daseinsvorsorge«, sagt er und fordert neben der Abschaffung der DRGs Personalvorgaben, die diesen Namen verdienen. Die von Spahn eingeführten Pflegepersonaluntergrenzen – die nicht den Versorgungsbedarf abbilden, sondern lediglich eine Patientengefährdung ausschließen sollen – »taugen nichts«, bringt es der Krankenpfleger auf den Punkt.
Auch in der Geburtshilfe seien am Bedarf der Frauen ausgerichtete Personalvorgaben und Leitlinien nötig, meint Ingrid Mollnar, Landesvorsitzende des Hebammenverbandes Rheinland-Pfalz, der sich mit ver.di und vielen anderen Organisationen im Bündnis »Pflegeaufstand« zusammengeschlossen hat. Statt für eine seien Hebammen im Kreißsaal oft für drei oder mehr gebärdende Frauen zuständig. Zudem könnten 90 Prozent der Kolleginnen regelmäßig keine Pause machen. »Die Geburtshilfe wird weitgehend ausgeblendet«, kritisiert Mollnar. »In den letzten 25 Jahren haben 40 Prozent der Geburtskliniken zugemacht. Die Geburtshilfe muss erreichbar bleiben und braucht eine bedarfsgerechte Finanzierung.«
In Bezug auf die Altenpflege hätten die politisch Verantwortlichen ebenfalls vieles versprochen, aber kaum etwas gehalten, sagt Susanne Linden, die bei Pro Seniore in Bad Bergzabern arbeitet. Oft seien drei Kolleginnen für 38 pflegebedürftige Menschen im Wohnbereich und elf weitere im betreuten Wohnen zuständig. »Das ist ein enormer Stress, die Pflege ist am Limit.« Die Zustände seien in allen Pflegeeinrichtungen des Landes ähnlich.
Die Vorsitzende der Mitarbeitervertretung im Diakonie-Zentrum Pirmasens, Anne Jacobi-Wirth, bestätigt das: »Es fehlt die Zeit, den Menschen auch mal in Ruhe zu begegnen, nicht immer nur gehetzt.« Auch bei den christlichen Trägern seien die Arbeitsbedingungen kaum noch von denen in kommerziellen Einrichtungen zu unterscheiden. Darüber, dass Diakonie und Caritas die Erstreckung des Tarifvertrags in der Altenpflege nicht mitgetragen haben, sei sie immer noch »entsetzt und sehr enttäuscht«, betont die Mitarbeitervertreterin. Ihre Schlussfolgerung: »Es ist Zeit, dass wir uns nicht mehr alles gefallen lassen. In der Altenpflege geht es nur noch um den Markt, und das funktioniert einfach nicht. Es ist ein zerstörerisches System.«
Die Folgen spüren nicht nur die Älteren, sondern auch und gerade Berufseinsteiger*innen und Auszubildende. Diese machten den Großteil der rund 300 Kolleg*innen aus, die am 11. September in Mannheim auf die Straße gingen. »Gerade wir Auszubildende werden oft eingesetzt, um die Löcher in der Personalbesetzung zu stopfen«, kritisierte Nina Hermann, die am Universitätsklinikum Heidelberg eine Ausbildung zur Pflegekraft macht und sich dort in der Jugend- und Auszubildendenvertretung (JAV) engagiert. »Wir brauchen dringend mehr Personal und verbindliche Vorgaben für die strukturierte Praxisanleitung. Denn es fehlt nicht nur an Fachkräften, sondern dadurch auch an Ausbildungsqualität.« Klara Ronellenfitsch von der ver.di-Jugend Baden-Württemberg verwies darauf, dass rund 30 Prozent der Auszubildenden in der Pflege die Ausbildung abbrechen »Allein daran zeigt sich, dass es sich um strukturelle Probleme handelt, die systematisch und mit politischem Willen angegangen werden müssen«, so ihre Schlussfolgerung.
»Wir verlangen, dass die Probleme jetzt endlich an der Wurzel angepackt werden, anstatt weiter die Augen vor den Ursachen zu verschließen und nur ein bisschen weiße Salbe über die Probleme zu schmieren«, sagte Irene Gölz, die bei ver.di in Baden-Württemberg für das Gesundheits- und Sozialwesen zuständig ist. »Die Kolleginnen und Kollegen haben es so satt, immer wieder auf ihre belastende Situation aufmerksam zu machen, ohne dass sich grundlegend etwas ändert.« Die nächste Bundesregierung müsse mutige Entscheidungen treffen, die zu nachhaltigen Veränderungen führen. »Diesen Mut nicht zu haben, gefährdet weiter die Beschäftigten, aber auch diejenigen, die sich ihnen anvertrauen. Vorschläge, wie es gehen kann, sind seit langem bekannt.«
Dass sie grundlegende Veränderungen erwarten, machten zur gleichen Zeit auch knapp 150 Demonstrierende im 450 Kilometer entfernten Hannover deutlich. Beschäftigte aus Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, aus der Behindertenhilfe und dem Rettungsdienst zogen durch die niedersächsische Landeshauptstadt und hielten an verschiedenen Stationen Zwischenkundgebungen ab. Vor den Ministerien für Gesundheit und Finanzen sowie am Landtag forderten sie gute gesetzliche Rahmenbedingungen wie bedarfsgerechte Personalvorgaben und eine auskömmliche Finanzierung. Am Sitz des Kommunalen Arbeitgeberverbands verlangten sie, dass dieser nicht länger versucht, Tarifverträge zur Entlastung in kommunalen Kliniken zu verhindern. »Und bei den Krankenkassen haben wir deutlich gemacht, dass die Kostenträger die in der jeweiligen Branche maßgeblichen Tarifverträge vollständig refinanzieren müssen«, sagte der ver.di-Fachbereichsleiter für Niedersachsen und Bremen, David Matrai. »Das ist aktuell zum Beispiel im Rettungsdienst ein Problem, wo wir bei allen niedersächsischen DRK-Gliederungen die Bezahlung nach dem bundesweiten Reformtarifvertrag einfordern.«
Zum Abschluss der Aktion konfrontierten die Demonstrierenden in Hannover Vertreter*innen von SPD, Grünen, FDP und Linkspartei mit ihren Forderungen. Die CDU war nicht gekommen, die rechtspopulistische AfD nicht eingeladen. »Die Kolleginnen und Kollegen haben klargemacht, was sie erwarten: eine grundlegend andere Gesundheitspolitik, die nicht betriebswirtschaftliche Kennzahlen und Gewinne an erste Stelle setzt, sondern die Menschen«, fasste Matrai zusammen.
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