Warnstreik für Entlastung und Beschäftigungssicherung am Uniklinikum Gießen und Marburg. Über 800 Streikende diskutieren über Forderungen. Organisationsgrad nimmt deutlich zu.
Es bleiben der Leitung des Uniklinikums Gießen und Marburg (UKGM) noch wenige Tage. Am 24. März 2023 läuft das Ultimatum ab, das über 70 Prozent der betroffenen Beschäftigten – insgesamt 4.163 Kolleginnen und Kollegen – unterschrieben haben: Entweder akzeptiert Deutschlands einziges kommerziell betriebenes Universitätsklinikum bis dahin einen Tarifvertrag für Entlastung und Beschäftigungssicherung – oder es kommt zum Erzwingungsstreik. Bei einem großen Ratschlag in der Gießener Kongresshalle demonstrierten rund 1.000 UKGM-Beschäftigte am Dienstag (7. März 2023), dass sie für beide Varianten gerüstet sind: für konstruktive Verhandlungen ebenso wie für einen Streik, wie ihn das mittelhessische Uniklinikum noch nicht erlebt hat.
»Keiner von uns möchte gerne streiken«, stellte die Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin Joanna Weber aus Gießen klar. »Wir wollen eine gute Lösung für uns und unsere Patientinnen und Patienten.« Sollte das auf dem Verhandlungsweg nicht zu erreichen sein, ist für sie und ihre Kolleg*innen klar: Dann wird gestreikt. Schon der Warnstreik machte deutlich, welche Folgen ein Arbeitskampf für den Klinikbetrieb haben kann. Von etlichen Stationen berichteten Streikende, dass Betten vorübergehend geschlossen und Leistungen eingeschränkt werden mussten – selbst in Bereichen, die als schwer zu bestreiken gelten. »Im Marburger Kreißsaal sind wir zum ersten Mal im Warnstreik und haben durchgesetzt, dass alle geplanten Kaiserschnitte abgesagt wurden«, so die Hebamme Celina Henkel. »Natürlich sind wir für die Frauen da«, betonte sie. »Aber wir wollen unter diesen Bedingungen nicht länger arbeiten – wegen uns nicht und wegen der Frauen nicht, die ihre Kinder bei uns zur Welt bringen.« Die Tarifauseinandersetzung hat das Team zusammengeschweißt: 25 der 29 Kolleginnen haben sich ver.di angeschlossen, um gemeinsam Verbesserungen durchzusetzen.
Auch im Gießener Patiententransport sind über 70 Prozent der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert. »Bei uns, aber auch im Hol- und Bringedienst und anderswo – das sind Knochenjobs, mit einer hohen körperlichen Belastung«, erklärte Viktor Wildemann, der seit 14 Jahren am UKGM arbeitet. Sein 27-köpfiges Team fordert drei neue Vollzeitstellen sowie jährlich acht zusätzliche freie Tage zur Erholung. Entscheidend ist für die Servicebeschäftigten allerdings noch ein weiteres Thema: die Sicherung ihrer Arbeitsplätze. Die hessische Landesregierung und der UKGM-Eigentümer Asklepios/Rhön hatten sich kürzlich zwar auf ein »Zukunftspapier« geeinigt, wonach betriebsbedingte Kündigungen und Outsourcing im Gegenzug für Landezuschüsse von über 550 Millionen Euro ausgeschlossen werden. Das gilt allerdings nur für diejenigen, die direkt am Uniklinikum angestellt sind. Die rund 300 Kolleg*innen der UKGM Service GmbH bleiben außen vor.
»Darüber sind wir extrem enttäuscht, traurig und wütend«, sagte Viktor Wildemann. »Diese Spaltung schwächt das Krankenhaus insgesamt. Es ist mir völlig unverständlich, dass die Politik viele Millionen gibt und dann nicht einmal auf einer Beschäftigungssicherung für alle besteht.« Für ihn steht fest: »Dann müssen wir das eben per Tarifvertrag durchsetzen.« Der Patiententransporteur ist überzeugt, dass auch die Pflegekräfte und andere Beschäftigtengruppen hinter der Forderung stehen. »Wir sind das Fundament – ohne uns schafft es die Pflege nicht.«
Der Medizintechniker Patrick Schön betonte ebenfalls, dass das Krankenhaus auf Teamarbeit basiert. »Das ist wie bei einer Uhr: Wenn ein Zahnrad fehlt, funktioniert es nicht – egal wie klein es ist. Jeder wird gebraucht.« Wie überall fehle es auch in der Geräteinstandhaltung an Personal. »Alle reden von Digitalisierung. Aber es braucht nicht nur die Technik, sondern auch die Fachkräfte, die sie am Laufen halten.« In der Medizintechnik hat sich ebenfalls die Mehrheit der Kolleg*innen in ver.di organisiert, um Entlastung und sichere Arbeitsplätze für alle zu erreichen.
Insgesamt haben sich seit Oktober über 900 Beschäftigte der Gewerkschaft angeschlossen. Täglich kommen neue hinzu. Ihnen ist klar, dass Asklepios nicht freiwillig für mehr Personal sorgen wird. Es wäre der erste Entlastungstarifvertrag in einem profitorientiertem Konzern. Insgesamt hat ver.di bundesweit 24 solcher Vereinbarungen durchgesetzt. Wie sich diese auswirken, berichteten ver.di-Aktive aus den betreffenden Kliniken. »Bei uns dachten die Arbeitgeber, sie könnten es aussitzen – da haben sie sich schwer getäuscht«, erzählte die Fachkrankenpflegerin Carola Pörschke aus Münster über den Arbeitskampf an den NRW-Unikliniken im vergangenen Jahr. Die Arbeitsbedingungen hätten sich seither merklich entspannt. »Die elf Wochen Streik haben sich echt gelohnt.«
Alexandra Willer aus dem Essener Uniklinikum betonte, entscheidend für den Erfolg sei der Zusammenhalt der Beschäftigtengruppen gewesen. »Wir haben uns nicht spalten lassen, das hat uns stark gemacht.« Sicher werde die Asklepios-Spitze ebenfalls versuchen, die Einigkeit der Belegschaft zu untergraben. »Haltet zusammen, lasst euch nicht spalten – dann werdet ihr euch auch durchsetzen«, appellierte die Gewerkschafterin unter großem Applaus der Teilnehmer*innen.
Ob die Konzernspitze auf Spaltung und Eskalation oder doch auf einen Verhandlungskompromiss setzt, wird sich in den nächsten Tagen zeigen. Für den 30. März – kurz nach Ablauf des Ultimatums – mobilisiert ver.di bereits jetzt zu einer Demonstration, die auch die Bevölkerung ansprechen soll. Mit einer Plakatkampagne sollen die Menschen aus der Region in den kommenden Wochen für die Anliegen der Krankenhausbeschäftigten sensibilisiert werden. Es liegt in der Hand der Arbeitgeber, welchen Charakter die Demonstration am 31. März bekommt – ob es eine Streikkundgebung wird oder eine große Party, die den Tarifvertrag Entlastung feiert.
Ein Jahr nach Abschluss des Entlastungstarifvertrags an der Charité erkennt auch das Management die Vorteile. Bis zum Januar habe das Berliner Uniklinikum 500 neue Mitarbeitende gewonnen, erklärte Clara Eysel, die im Charité-Vorstand für Personal und Pflege zuständig ist, gegenüber kma-online. Zwar hätten zugleich 100 Beschäftigte das Haus verlassen, dennoch: »Es hat sich ganz klar etwas getan, seit der Tarifvertrag in Kraft ist.« Diese Erfahrung sollte Eysel mit anderen Klinikleitungen teilen, damit deren Beschäftigte nicht auch erst 30 Tage streiken müssen, um einen Tarifvertrag Entlastung zu bekommen.
ver.di hat im Februar am Universitätsklinikum Dresden ein Tarifergebnis erzielt, bei dem auch Regelungen für mehr Personal und Entlastung festgelegt werden. Die von ver.di, der Deutschen Krankenhausgesellschaft und dem Deutschen Pflegerat entwickelte Personalbemessung für die Krankenhauspflege, die PPR 2.0, muss in Dresden künftig zu 100 Prozent eingehalten werden. In anderen Bereichen gelten feste Personalschlüssel. Arbeiten Beschäftigte dennoch in unterbesetzten Schichten, erhalten sie einen tariflichen Ausgleich in Höhe von 15 Prozent, vorrangig abgegolten in Freizeit.
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