Noch eine Woche bis zur Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. »Wo, wo, wo ist unser Rettungsschirm?«, hallt es durch die Straßen der Düsseldorfer Innenstadt. Und wie zuletzt in Oberhausen und anderswo: »TVE für uns in NRW!« Rund 2.500 Beschäftigte aus allen sechs nordrhein-westfälischen Universitätskliniken ziehen an diesem Samstag (7. Mai 2022) in einem sehr langen und noch lauteren Demonstrationszug zum Düsseldorfer Landtag. Ihre Botschaft ist nicht zu überhören: Sie fordern den TVE – einen Tarifvertrag Entlastung, der die Arbeitsbedingungen aller Berufsgruppen verbessert.
Für dieses Ziel demonstrieren sie nicht nur, dafür streiken sie auch, seit sich vor einer Woche über 98 Prozent der gewerkschaftlich organisierten Kolleg*innen per Urabstimmung für den Arbeitskampf aussprachen. »Wir haben einen super-starken Streikauftakt hingelegt«, blickt Lisa Wagemann vom Uniklinikum Bonn zurück. 1.900 Streikende waren es allein am Mittwoch. Dutzende Stationen und Bereiche sind geschlossen, die OP-Kapazitäten um etwa 70 Prozent reduziert. Zugleich stellt ver.di die Notfallversorgung sicher. In fünf der sechs Unikliniken hat die Gewerkschaft dafür Notdienstvereinbarungen abgeschlossen, die die Schließung von Betten und ganzen Stationen vorsehen, wenn sich aus den Teams viele zum Streik anmelden.
Nur die Aachener Klinikleitung verweigert sich einer solchen Regelung bislang. Stillgelegt werden die betreffenden Bereiche dennoch. Nun hat das Management erklärt, Stationen einseitig wieder öffnen zu wollen – obwohl das dafür nötige Personal im Streik ist. »In Aachen versucht die Klinikleitung massiv, unseren Streik zu brechen. Wir fordern die Landesregierung auf, sie sofort zurückzupfeifen« ruft die ver.di-Landesleiterin Gabi Schmidt den Demonstrant*innen in Düsseldorf zu. Eine von ihnen ist die gelernte Altenpflegerin Semiha Karan, die auf einer geschlossenen psychiatrischen Station des Aachener Uniklinikums arbeitet und das Vorgehen der Klinikleitung »unverantwortlich« nennt. »Sie greift unser Streikrecht an, das lassen wir uns nicht gefallen.«
Ihre Kollegin Nina Wachler von der Nachbarstation, die wieder eröffnet werden soll, betont: »Wir lassen uns durch so etwas nicht einschüchtern – im Gegenteil. Der Vorstand macht die Bewegung dadurch nur noch größer.« Auch und gerade in den psychiatrischen Abteilungen brauche es genug Zeit, um auf die Menschen einzugehen, mit ihnen zu reden und zum Beispiel Ausgänge zu ermöglichen, erklärt die Pflegerin. Gleiches gelte für die Vermeidung von Gewalt und Übergriffen. »Mehr Personal bedeutet mehr Sicherheit – sowohl für die Patientinnen und Patienten als auch für uns.«
Der Arbeitskampf geht einher mit einer massiven gewerkschaftlichen Organisierung. Tausende Klinikbeschäftigte haben sich ver.di in den vergangenen Wochen angeschlossen. »Wir waren letzte Woche noch acht Gewerkschafter, jetzt sind wir 23«, berichtet Justine Bös, die sonst in der Zentralen Notaufnahme des Essener Uniklinikums arbeitet und heute im blauen Kasack auf der Kundgebungsbühne steht. »Wir können nicht mehr«, bringt sie ihre Motivation auf den Punkt. »Wir kommen physisch und psychisch kaputt nach Hause – das muss endlich ein Ende haben.«
»Vor drei Wochen war bei uns noch so gut wie keiner organisiert, jetzt sind 17 von 28 Kollegen in ver.di«, berichtet der Gesundheits- und Krankenpfleger Jens Wrona, der auf einer HNO-Station des Uniklinikums Köln arbeitet. Auch er selbst ist erst vor wenigen Wochen eingetreten. Gewerkschaft war für ihn zuvor nie ein Thema. »Die Bewegung für mehr Personal hat mich abgeholt. Mir ist klar geworden, dass wir uns nur selbst helfen können. Deshalb bin ich aktiv geworden«, erzählt Wrona, der plötzlich vor tausenden Streikenden spricht und sie auffordert, »den Hype, der hier herrscht, auf die Stationen mitzunehmen«.
Auf der Demonstration wird nicht nur die Kraft des Arbeitskampfs deutlich, sondern auch die große Unterstützung für die Streikenden. Beschäftigte aus anderen Branchen, Patient*innen, Sozialverbände und Parteien zeigen ihre Solidarität. Silke Behrendt aus Bochum überbringt Grüße der Kolleg*innen aus der Altenpflege, Susanne Quast von der »Volksinitiative für gesunde Krankenhäuser in NRW«. Auch Ärztinnen und Ärzte demonstrieren mit. So zum Beispiel der Anästhesist Jonathan Sorge aus dem Aachener Uniklinikum. »Wir merken jeden Tag, was es heißt, wenn zu wenig Pflege da ist«, erläutert er sein Engagement. »Dann werden die Patienten schlechter behandelt als es sein könnte.« Mehr als 550 Mediziner*innen haben bereits einen Aufruf (aerzte-soli-notrufnrw.de) unterzeichnet, mit dem sie die Forderungen der Streikenden unterstützen. »Wir sind im Krankenhaus ein großes Team«, sagt Sorge. »Wenn ein Zahnrad stillsteht, funktioniert das ganze Getriebe nicht.«
Beschäftigte anderer Krankenhäuser zeigen ebenfalls ihre Solidarität. »Es ist klasse, dass alle Unikliniken in NRW für einen Tarifvertrag Entlastung kämpfen«, findet der Krankenpfleger Valentin Pilz von den Kliniken der Stadt Köln. »Das ist auch für mich eine Vision. Aber dafür müssen wir gut organisiert sein.« Der Betriebsrat und Gewerkschafter trägt ein T-Shirt, »Der Deckel muss weg« steht darauf. Es stammt von einer Großdemonstration gegen die Deckelung der Krankenhausbudgets und für mehr Personal 2008 in Berlin. »Seither hat sich nichts verbessert«, bilanziert Pilz, »ganz im Gegenteil«. Die Einführung von Fallpauschalen (Diagnosis Related Groups, DRG) und die Pauschalierung von Investitionszuschüssen in NRW habe die Situation an den Krankenhäusern noch weiter verschärft. Zuvor war bereits die Pflegepersonalregelung (PPR) abgeschafft worden. Vor diesem Hintergrund brauche es keine Corona-Einmalzahlungen für die Pflege, sondern eine grundlegende Gesundheitsreform und eine bedarfsgerechte Personalbemessung.
Sylvia Bühler vom ver.di-Bundesvorstand plädiert in ihrer Rede ebenfalls für grundlegende Veränderungen. Das DRG-System führe zu deutlichen Fehlsteuerungen, zu Personalabbau auf der einen und unnötigen Leistungen auf der anderen Seite. Ihr Schlussfolgerung: »Die Fallpauschalen müssen weg und durch eine bedarfsgerechte Finanzierung abgelöst werden!« Bühler stellt klar, dass die Gewerkschaft den Kampf bis zum Erfolg weiterführen will. »Wir ziehen das durch und gehen erst wieder aus diesem Streik, wenn er da ist: der Tarifvertrag Entlastung«, ruft sie unter dem Applaus der Demonstrierenden.
Dass Krankenhausbeschäftigte überhaupt für eine Personalausstattung streiken müssen, die eine gute Versorgung ermöglicht, sei »eine Schande für die Gesundheitspolitik in diesem Land«, betont die Gewerkschafterin. ver.di lasse die Politik nicht aus der Verantwortung. Das seit über zwei Jahren vorliegende Konzept für eine bedarfsgerechte Personalbemessung in der Krankenpflege, die PPR 2.0, müsse endlich umgesetzt werden. Die Botschaft geht an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). Sie richtet sich aber auch an alle Parteien und Kandidat*innen, die am 15. Mai um Mandate im Düsseldorfer Landtag kämpfen.
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Im ver.di-Mitgliedernetz findet ihr alle Materialien zur Bewegung. In der Gruppe "Klinikpersonal entlasten" findet ihr die Handlungsleitfäden.