Richtung De-Professionalisierung

Österreich geht mit der Ausdifferenzierung der Pflegeberufe einen Weg, den manche auch für Deutschland vorschlagen – mit problematischen Folgen.
20.11.2024
Claudia Lehmann ist Referentin in der Abteilung Gesundheitsberuferecht und Pflegepolitik der Arbeiterkammer Wien.

In Österreich wurden die Ausbildungswege in der Pflege in den vergangenen Jahren umstrukturiert. Was waren die zentralen Veränderungen?

Mit der Novelle des Gesundheits- und Krankenpflegegesetzes 2016 wurde unter anderem neben der Pflegeassistenz mit einjähriger Ausbildung ein weiterer Assistenzberuf eingeführt: die Pflegefachassistenz mit zweijähriger Ausbildungszeit. Zudem legte die Gesetzesänderung den Grundstein für die Akademisierung des gehobenen Dienstes in der Gesundheits- und Krankenpflege. Seit dem 1. Januar 2024 kann die höchste Ausbildungsstufe innerhalb der Gesundheits- und Krankenpflegeberufe ausschließlich durch ein Studium an einer Fachhochschule erworben werden.

Welche Ziele verfolgte die Regierung damit?

Man wollte den wachsenden Ansprüchen an die Pflegeberufe gerecht werden. Denn die Pflegesituationen werden immer komplexer. Darüber hinaus wurden zunehmend auch Tätigkeiten aus medizinischer Diagnostik und Therapie an Pflegende übertragen. Mit Einführung der Pflegefachassistenz, mit einer auf die Pflegeassistenz aufbauenden und erweiterten Qualifikation, wurden weitergehende Delegationsmöglichkeiten eröffnet. Während  Pflegeassistent*innen nur unter Anleitung und Aufsicht tätig sein dürfen, entfällt bei den Pflegefachassistent*innen die verpflichtende Aufsicht. Außerdem haben sie mehr Befugnisse im Bereich der medizinischen Diagnostik und Therapie.

Ist es nicht eine gute Idee, gestiegenen Anforderungen mit mehr Qualifikation zu begegnen?

Doch, auf jeden Fall. Allerdings geschieht gerade das Gegenteil: Wenn die Entwicklung so weitergeht, findet eine De-Professionalisierung statt. Eine Evaluierungsstudie zum Einsatz der Pflegefachassistenz im Akutbereich aus dem Jahr 2021 kommt zu der Einschätzung, dass der gehobene Dienst für Gesundheits- und Krankenpflege durch den Einsatz der Pflegefachassistenz schon jetzt einen geringeren bzw. keinen kontinuierlichen Patientenkontakt mehr hat. Denn in der Praxis kam es zu umfassenden Änderungen in der Personalzusammensetzung, meistens wurde der Anteil des gehobenen Dienstes für Gesundheits- und Krankenpflege reduziert. Mit einem Personalmix zugunsten der Pflegeassistenzberufe kommt es zu einer Verschiebung der Aufgabengebiete und damit zu einem Rückschritt in Richtung Funktionspflege, wobei das höchstqualifizierte Personal aus der direkten Patientenversorgung herausgedrängt wird.

Die Studie verdeutlicht auch, dass diplomiertes Gesundheits- und Krankenpflegepersonal durch diese neue Arbeitsweise an die Grenzen der Belastbarkeit geführt wird. Für diese Beschäftigten besteht zu wenig direkter Patientenkontakt, so dass individuelle Anpassungen und Entscheidungen immer schwieriger werden bzw. nicht mehr möglich sind. Auch die Pflegeassistenzberufe sind durch diese Arbeitsweise mit einer hohen und oft überfordernden Arbeitslast konfrontiert, da die vorhandenen Kompetenzen maximal ausgeschöpft werden müssen. Insbesondere die Pflegefachassistenz wurde mit weiteren Befugnissen ausgestattet, was mit noch mehr Aufgaben bei gleicher Zeit mit höherer Verantwortung, aber ohne zusätzliche Ausbildungsdauer und entsprechendes Entgelt verbunden ist.

Es wird also Arbeit von examinierten Pflegefachpersonen auf Fachassistent*innen verlagert. Und wie ist die Aufteilung zwischen Fachassistenz und einjährig qualifizierten Pflegeassistent*innen?

Der höher qualifizierte Beruf der Pflegefachassistenz sollte ursprünglich die Pflegeassistenz in den Krankenhäusern ersetzen. Pflegeassistent*innen sollten künftig nur in der Langzeitpflege eingesetzt werden. Das hat man 2022 wieder rückgängig gemacht, weil insgesamt schlicht zu wenig Personal da ist. Die Folge ist, dass in den Teams oft drei Berufsgruppen mit unterschiedlichen Kompetenzen nebeneinander arbeiten. Für die Dienstplangestaltung ist das ein großes Problem: Wenn eine Pflegeassistenz ausfällt, kann sie von allen drei Gruppen ersetzt werden. Diplomierte Gesundheits- und Krankenpfleger*innen, von denen es in den Teams am wenigsten gibt, können sich hingegen nur wechselseitig vertreten und kommen dadurch auch häufiger zum Handkuss, einspringen zu müssen. Unzuverlässige Dienstpläne verringern die Attraktivität und die Zufriedenheit im Beruf. Außerdem erhöht das Nebeneinander von drei Pflegeberufen den Aufwand bei der Planung der Arbeitsabläufe.

 

Der Druck auf die Fachkräfte wird also noch größer?

Ganz genau, denn ohne strukturelle Veränderungen verbessert sich weder die Situation der Pflegenden noch die Versorgungsqualität.

Wie funktioniert die Abgrenzung der Tätigkeiten zwischen den verschiedenen Qualifikationsniveaus?

Dass das ein Problem ist, merken wir in unserer Beratung täglich. Wir erhalten sehr viele Anfragen, wer in welcher Situation was tun darf, was in welchem Bereich delegiert werden darf etc. Da herrscht viel Unklarheit und Unsicherheit, auch hinsichtlich Haftungsfragen. Viele Tätigkeiten aus medizinischer Diagnostik und Therapie wurden zur Pflegefachassistenz verschoben. Die Kompetenzerweiterungen wurden mit der Vermeidung von Versorgungsbrüchen und der effizienteren Gestaltung von Arbeitsabläufen begründet. Doch je mehr Pflegeassistenzberufe in der Patientenversorgung eingesetzt werden, desto seltener kommt die Diplompflege dorthin. Was langfristig die Frage aufwirft: Wie sollen die diplomierten Gesundheits- und Krankenpfleger*innen ihre Fachkompetenz in der Praxis weiterentwickeln? Wie sollen sie delegieren können, wenn sie ihre Patient*innen gar nicht mehr kennen? Die anfängliche Idee, Pflegeassistenzkräfte besser zu qualifizieren, war sicher gut. Je länger jemand ausgebildet ist, desto höher ist die Qualität. Aber die jetzige Entwicklung wird langfristig Probleme machen.

Wie steht es um die Durchlässigkeit zwischen den Qualifikationsniveaus?

Da gibt es inzwischen gute Modelle. Die Ausbildungen der Pflegeassistenzberufe sind modular aufgebaut. Das heißt, Pflegeassistent*innen absolvieren ein weiteres Ausbildungsjahr bis zur Pflegefachassistenz. Pflegefachassistent*innen können sich in einem verkürzten Studium in der Gesundheits- und Krankenpflege weiter qualifizieren. Derzeit werden alle Pflegeausbildungen mit einer Ausbildungsprämie oder dem Pflegestipendium gefördert.

In Deutschland geht die Diskussion auch in Richtung einer stärkeren Differenzierung, die Entwicklung ist aber noch nicht so weit fortgeschritten wie in Österreich. Was können wir aus den Erfahrungen in unserem Nachbarland lernen?

Grundsätzlich ist es gut, Berufe und Ausbildungsverordnungen bundesweit einheitlich zu regeln. Längere Ausbildungszeiten finde ich ebenfalls positiv, denn mehr Ausbildung bedeutet bessere Pflegequalität. Allerdings ist in Österreich zu beobachten, dass die Diplompflege zunehmend durch Pflegeassistenzberufe ersetzt wird. Diese erkennbare Ökonomisierung lässt Patientenorientierung und Pflegequalität in den Hintergrund rücken und wirkt dem ursprünglichen Gedanken des Gesetzgebers in Bezug auf eine qualitätsvolle Versorgung der Patient*innen und der Professionalisierung der Pflege entgegen.

Wegen der demografischen Entwicklung wird es nicht möglich sein, den steigenden Personalbedarf in der Pflege quantitativ zu kompensieren. Daher sollte es ein gesellschafts- und sozialpolitisches Ziel sein, die Gesundheitsversorgung qualitativ zu beeinflussen und gleichzeitig die interprofessionelle Zusammenarbeit aller Gesundheitsberufe zu verbessern.

Interview: Daniel Behruzi

 

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