Sicher und unterstützt im eigenen Haushalt alt zu werden – das wünschen sich viele ältere und auch pflegebedürftige Menschen. Und dies sollte auch das Ziel einer integrierten pflegerischen Versorgung sein. Weil sich Angehörige oft nicht (mehr) dazu in der Lage sehen, suchen sie nach alternativen Lösungen mit Unterstützung durch Dritte. Das Versprechen der sogenannten 24-Stunden-Pflege1 – die vermeintlich »rund um die Uhr« zur Verfügung steht, und das zu bezahlbaren Preisen – erscheint verlockend. Dass dies nur mit systematischen Verstößen gegen Arbeitsschutzgesetze, Persönlichkeitsrechte und auf Kosten der Qualität und Sicherheit der Versorgung zu haben ist, tritt häufig in den Hintergrund.
Laut Pflegestatistik waren in Deutschland 2019 rund 4,1 Millionen Menschen pflegebedürftig, 80 Prozent von ihnen lebten im eigenen Zuhause und wurden von pflegenden Angehörigen, ambulanten Pflegediensten oder aber von Live-in-Kräften betreut und gepflegt. Schätzungen zufolge leben und arbeiten in diesen Privathaushalten derzeit zwischen 300.000 bis 600.000, meist aus Osteuropa stammende Arbeitskräfte, die neben Tätigkeiten im Haushalt auch für die Betreuung und Versorgung zuständig sind. Meist verschwimmen die Grenzen zu pflegerischen Tätigkeiten, für die eine fachliche Qualifikation notwendig wäre.
Die Zahl pflegebedürftiger Menschen wird in Zukunft weiter steigen. In Kombination mit einem akuten Fachkräftebedarf in der Pflege verschärft dies die Situation pflegebedürftiger Menschen. Zumindest diejenigen, die es sich leisten können, greifen deshalb oft auf Live-in-Kräfte zurück.
Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg hat einer bulgarischen Betreuerin im August 2020 in zweiter Instanz die Nachzahlung des gesetzlichen Mindestlohns zugesprochen. Dieses Urteil (Az. 21 Sa 1900/19) hat die Diskussion um die sogenannte 24-Stunden-Pflege nochmal deutlich angeheizt. Geklagt hatte mit Unterstützung von ver.di und DGB eine bulgarische Betreuerin, die im Haushalt einer 96-Jährigen lebte und dort rund um die Uhr für Körperpflege, Hilfe beim Essen und Ankleiden sowie soziale Aufgaben zur Verfügung stehen sollte.2 Bezahlt wurde sie laut Arbeitsvertrag allerdings nur für 30 Stunden pro Woche und erhielt knapp 1.000 Euro netto im Monat. Vermittelt wurde die Beschäftigte von einer deutschen Agentur, angestellt war sie bei einer bulgarischen Firma, die nun zur Nachzahlung von über 30.000 Euro allein für das Jahr 2015 verurteilt wurde. 3+4
Neben Verstößen gegen Schutzrechte der Beschäftigten ist die Problematik dieses Modells, dass es die Pflegequalität nicht sichert. Denn die allermeisten dieser Kolleginnen und Kollegen sind keine gelernten Pflegekräfte, obwohl sie vielfach Pflegetätigkeiten ausführen (müssen). Die Trennung zwischen hauswirtschaftlichen und pflegerischen Tätigkeiten ist in der Regel nicht klar. In die Privathaushalte gelangen sie häufig durch Vermittlungsagenturen, die Haushalte bei der Suche und Vermittlung derartiger Arrangements unterstützen – für die Agenturen ein lohnendes Geschäft. Auch die Rolle der Privathaushalte als »Arbeitgeber« und die damit verbundenen Rechtskonstruktionen sind in der Regel nicht klargestellt.
Häufig wird das sogenannte Pflegegeld als Leistung der Sozialen Pflegeversicherung aus dem Sozialgesetzbuch (SGB) XI zur Teilfinanzierung herangezogen. Mit diesem soll eigentlich der oder die Leistungsberechtigte in die Lage versetzt werden, seinen bzw. ihren Pflege- und Unterstützungsbedarf durch ehrenamtliche Hilfen, insbesondere durch nahestehende Personen, mittels kleiner Geldzahlungen oder Geschenke sicherzustellen. Es ist aber auch möglich, das Pflegegeld zur Finanzierung professioneller Hilfen durch einen Pflegedienst zu verwenden.5
In der pflegerischen Unterstützung ist die Zulassung von Betreuungs- und Pflegediensten sowie von Alltagsbegleitung streng geregelt.6+7 Pflegedienste im Sinne des § 71 Abs. 1 SGB XI sind nur solche Einrichtungen, von denen die pflegebedürftigen Menschen unter ständiger Verantwortung einer ausgebildeten Pflegefachkraft gepflegt werden. Damit setzt die Vorschrift schon bei der Definition der Pflegedienste voraus, dass die pflegerische Gesamtleitung einer Person übertragen ist, die die Formalqualifikationen des § 71 Abs. 3 SGB XI erfüllt. Dabei muss nicht die Leitung des Pflegedienstes in den Händen einer Pflegefachkraft liegen, sondern die pflegerische Versorgung unter ihrer ständigen Verantwortung stehen. Sie ist für die Steuerung, Anleitung, Koordination und Kontrolle der Pflegeleistungen auf Grundlage eines in jedem Einzelfall gesondert zu erhebenden Bedarfs verantwortlich. Zudem müssen sich ambulante Pflegeeinrichtungen bei ihrer Zulassung dazu verpflichten, einrichtungsintern ein Qualitätsmanagement einzuführen und weiterzuentwickeln8 sowie, alle Expertenstandards nach § 113a SGB XI anzuwenden.9 Diesen Vorgaben entsprechen die Vermittlungsagenturen nicht, obwohl sie zum Teil Arbeitsverträge abschließen, in denen grundpflegerische Tätigkeiten aufgeführt werden.
Die Behandlungspflege nach SGB V umfasst ausschließlich medizinische Leistungen, die von Pflegefachkräften bei einer pflegebedürftigen Person zu Hause durchgeführt werden, und zwar auf der Basis einer ärztlichen Verordnung. Darunter fallen Tätigkeiten wie Wundversorgung, Verbandswechsel, Medikamentengabe, Dekubitusbehandlung oder Blutdruck- und Blutzuckermessung. Diese Tätigkeiten dürfen also ausschließlich von examinierten Pflegekräften ausgeübt werden.
Die Grundpflege ist eine Leistung der Pflegeversicherung für pflegebedürftige Menschen. Dazu gehören Körperpflege, Ernährung, Mobilität, Vorbeugung (Prophylaxen), die Förderung von Eigenständigkeit und Kommunikation. Diese Leistungen der Grundpflege werden von Pflegehilfs- und Assistenzkräften (mit unterschiedlichen, landesrechtlich geregelten Qualifikationsniveaus), von pflegenden Angehörigen und sonstigen Betreuungspersonen erbracht.
Ziel muss es sein, auch für pflegebedürftige und alte Menschen, die in ihrem Zuhause bleiben, eine qualitativ hochwertige Versorgung zu gewährleisten. Es ist fraglich, ob das mit der genannten Konstellation garantiert ist. Denn beispielsweise bei der Körperpflege lässt sich vieles beobachten und daraus ableiten, was den Gesamtzustand der Menschen anbetrifft. Deshalb ist für jegliche pflegerische Tätigkeit ein ausreichendes Qualifikationsniveau sicherzustellen.
Neben den pflegerischen bestehen in Pflege- und Altenhaushalten auch Bedarfe an hauswirtschaftlicher Unterstützung. Diese können mit der bisherigen Angebots- und Finanzierungsstruktur des SGB XI nicht abgedeckt werden. Dies ist das Grundproblem und die zentrale Ursache dafür, dass sich der Markt der sogenannten Live-in-Kräfte etabliert hat. Es fehlt eine integrierte pflegerische Infrastruktur, die darauf ausgerichtet ist, den Menschen möglichst lange ein Leben in Selbstständigkeit zu ermöglichen. Dazu zählen beispielsweise auch staatliche Anreize, haushaltsnahe Dienstleistungen durch reguläre Beschäftigungsverhältnisse attraktiver zu gestalten.
Die Beschäftigung von Live-in-Kräften entsteht oft »aus der Not« heraus. Neben der Regulierung der Beschäftigungsverhältnisse in Privathaushalten ist es deshalb entscheidend, die Leistungen der Pflegeversicherung insgesamt sowie die pflegerische Infrastruktur weiterzuentwickeln. Darüber hinaus muss der Zugang zu hauswirtschaftlicher Unterstützung verbessert werden. Diese Perspektiven sind sehr wichtig, um die Diskussion um eine Weiterentwicklung der Pflegeversicherung zu befördern und um pflegerische Tätigkeiten von haushaltsnahen Dienstleistungen abzugrenzen.
Der DGB spricht sich in diesem Zusammenhang für das sogenannte Zuschussmodell aus, wie es im Koalitionsvertrag vereinbart und in die Nationale Gleichstellungsstrategie aufgenommen wurde.10 Mit ihm kann ein funktionierendes Gesamtsystem der gewerblich organisierten Sorgearbeit aufgebaut, ergänzt und nachhaltig weiterentwickelt werden. Ziel muss die Professionalisierung haushaltsnaher Dienstleistungen als legale Erwerbsarbeit sein. Die steigende Nachfrage nach haushaltsnahen Dienstleistungen kann und darf nicht über prekäre Arbeitsverhältnisse gedeckt werden. Deshalb muss das gesamte System personen- und sachbezogener Dienstleistungen in Privathaushalten neu ausgerichtet werden. Der DGB setzt sich dafür ein, dass haushaltsnahe Dienstleistungen durch Zuschüsse bezahlbar werden.
ver.di plädiert dafür, die Pflegeversicherung zu einer »Solidarischen Pflegegarantie« weiterzuentwickeln, bei der alle Kosten für eine bedarfsgerechte Pflege – ambulant und stationär – übernommen werden und die von allen Bürgerinnen und Bürgern solidarisch finanziert wird. Dazu gehört auch ein individuelles Fallmanagement, damit die jeweiligen pflegerischen Bedarfe genau bestimmt werden können.
Hinzukommen müssen bundesweite und flächendeckende ambulante Versorgungs- und Beratungsstrukturen, um neben der Pflege auch die Bedarfe im Bereich der Hauswirtschaft zu ermitteln und entsprechende Unterstützung anbieten zu können. Die Möglichkeit der steuerlichen Bezuschussung für die Inanspruchnahme haushaltsnaher Dienstleistungen sollte geprüft werden, womit zugleich legale, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gefördert würde. Damit wird hauswirtschaftliche Tätigkeit (Privatangelegenheit) von pflegerischer Tätigkeit (Leistungen nach SGB XI) getrennt. Die sogenannten Live-in Kräfte ohne pflegerische Ausbildung müssten dann keine pflegerischen Tätigkeiten ausführen und sind damit auch rechtlich in ihrer Tätigkeit in dieser Frage abgesichert. Sie könnten zu regulären Bedingungen entsprechend ihrer Qualifikation angestellt und entlohnt werden. Pflegebedürftigen Menschen und ihren Familien wäre der legale Weg zu qualitätsgesicherter Pflege und hauswirtschaftlicher Unterstützung geebnet.
1 Da es sich hier nicht um das Erbringen einer professionellen pflegerischen Tätigkeit handelt, sondern um eine 24-Stunden-Betreuung durch Personen, die im Haushalt eines pflegebedürftigen Menschen wohnen aber meist keine Pflegeausbildung absolviert haben, sprechen wir im Folgenden von Live-in-Kräften.
2 t1p.de/gefangen-privathaushalt
3 t1p.de/mindestlohn-erstritten
5 Anders als bei den Zulassungsvoraussetzungen ambulanter Pflegedienste (ständige Verantwortung einer ausgebildeten Pflegefachkraft) zur Erbringung von Leistungen (Inanspruchnahme Pflegesachmittel) bedarf es bei der Verwendung des Pflegegelds keines Nachweises über die Leistungserbringung der sogenannten 24-Stunden-Kräfte (t1p.de/anforderungen-ambulante-pf)
6 Nach § 72 Abs. 1 Satz 1 SGB XI dürfen die Pflegekassen häusliche Pflegehilfe nur durch ambulante Pflegeeinrichtungen gewähren, mit denen ein Versorgungsvertrag besteht
(zugelassene Pflegeeinrichtungen).
7 Die Voraussetzungen, die eine ambulante Pflegeeinrichtung zu erfüllen hat, um durch Versorgungsvertrag zur Erbringung von Leistungen der häuslichen Pflegehilfe im Sinne des § 36 SGB XI zugelassen zu werden, sind abschließend in § 72 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 1 Nr. 1 bis 4 SGB XI geregelt. Danach müssen folgende Zulassungsvoraussetzungen vorliegen:
Erfüllung der Anforderungen nach § 71 SGB XI
Gewähr für eine leistungsfähige und wirtschaftliche pflegerische Versorgung
Zahlung einer in ambulanten Pflegeeinrichtungen ortsüblichen Arbeitsvergütung
Maßnahmen der Qualitätssicherung.
8 nach Maßgabe der Vereinbarungen nach § 113 SGB XI
9 § 72 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 1 Nr. 3 und 4 SGB XI; t1p.de/anforderungen-pflege, S. 9-10
10 DGB Arbeitsmarkt aktuell: Nr. 6 / Oktober 2020 DGB Abteilung Arbeitsmarktpolitik S.10ff.
Berufsgenossenschaft Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW), Arbeits- und Gesundheitsschutz
030/6956-1815
dietmar.erdmeier@verdi.de