Ob im Krankenhaus, Pflegeheim, Schlachtbetrieb oder Supermarkt: Die Corona-Pandemie hat gezeigt, wie wichtig der Schutz der Beschäftigten vor einer Infektion ist. Nicht nur in Zeiten von Covid-19. Die Gewerkschafterin Silvia Thimm, für ver.di im Vorstand der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW), und Herbert Beck, Mitglied für ver.di im Sozialen Dialog Krankenhäuser bei der EU-Kommission, erklären im Interview, wo beim Arbeitsschutz noch Verbesserungen notwendig sind und wie Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft für Veränderungen auf europäischer Ebene nutzen sollte.
Die Corona-Pandemie zeigt deutlich, dass viele Menschen bei der Arbeit einem hohen Infektionsrisiko ausgesetzt sind. Wie können die Kolleginnen und Kollegen am Arbeitsplatz am besten vor einer Ansteckung geschützt werden?
Silvia Thimm: Das ist ganz unterschiedlich. Für jede Tätigkeit muss genau geguckt werden, was nötig ist, damit die Kolleginnen und Kollegen möglichst gesund bleiben. Mit der Biostoffverordnung haben wir in Deutschland ein gutes Instrument, um speziell die Beschäftigten im Gesundheitswesen vor Infektionen zu schützen. Die Verordnung legt konkrete Regeln fest. So wird jeder Erreger einer von vier Risikogruppen zugeordnet, aus der sich konkrete Schutzmaßnahmen ableiten. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, für jede Tätigkeit eine Gefährdungsbeurteilung durchzuführen. Dabei wird geklärt: In welchen Situationen gibt es Risiken und wie lässt sich Abhilfe schaffen? Für jeden Bereich wird geprüft, welche technischen und organisatorischen Lösungen möglich sind und welche persönliche Schutzausrüstung es braucht.
Die Biostoffverordnung geht auf eine EU-Richtlinie zurück und wird von den Ländern aktuell überarbeitet. Auf welche Verbesserungen drängt ihr als Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter?
Silvia Thimm: Unser Ziel ist es, dass die Verordnung auf andere Bereiche ausgeweitet wird. Die Regelung soll nicht nur fürs Gesundheitswesen gelten, sondern für alle Beschäftigten, die am Arbeitsplatz einem Infektionsrisiko ausgesetzt sind. Also die Kolleginnen und Kollegen im Einzelhandel genauso wie im Erziehungsdienst und im Nahverkehr. Auch Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter müssen aufgenommen werden, das ist ganz klar unsere Forderung.
Welche Vorteile bringt ihnen das?
Silvia Thimm: Die Biostoffverordnung ist eine große Unterstützung für die Kolleginnen und Kollegen vor Ort, um die Arbeitsplätze sicherer zu gestalten. So müssten die Arbeitgeber zum Beispiel auch für Erzieherinnen und Erzieher konkrete Schutzmaßnahmen entwickeln. Das ist nicht nur mit Blick auf Covid-19 wichtig, sondern auch zum Schutz vor anderen Erregern. Der große Vorteil: Infektionen bei der Arbeit werden im Gesundheitswesen, der Wohlfahrtspflege und in Laboren als Berufskrankheit anerkannt, kurz BK 3101 genannt. Damit ist die Berufsgenossenschaft zuständig, die alles aus einer Hand regelt: Von der Akutversorgung über die Rehabilitation bis hin zur Reintegration ins Arbeitsleben. Das sollte auch für die Beschäftigten aus anderen Bereichen gelten.
Wo hakt es bei der Biostoffverordnung noch?
Silvia Thimm: Die Verordnung nimmt die Arbeitgeber schon seit Jahren klar in die Pflicht, jede Tätigkeit unter die Lupe zu nehmen. Die Gefährdungsbeurteilung ist ein wichtiges Instrument der betrieblichen Interessensvertretung. Doch in der Praxis halten sich viele Arbeitgeber nicht an die Regelung. Kein Wunder, wenn es kaum Kontrollen gibt. Wir fordern daher, dass stärker kontrolliert wird, ob die Vorgaben eingehalten werden.
Wie sieht es mit dem Schutz der Beschäftigten auf europäischer Ebene aus? Am 1. Juli hat Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft übernommen. Wie sollte dieser Einfluss genutzt werden?
Herbert Beck: Was Schutzmaßnahmen für die Beschäftigten im Gesundheitswesen angeht, ist Deutschland mit der Biostoffverordnung anderen Ländern einige Schritte voraus. So werden bei uns zum Beispiel schon seit Jahren neben technischen Gefährdungen auch psychische Belastungen erfasst. Andere EU-Mitgliedstaaten haben die Arbeitsschutzregeln teilweise gar nicht beziehungsweise unvollständig umgesetzt. Auch einzelne Arbeitgeber finden immer wieder Gründe und Wege, gesetzliche Vorgaben zum Schutz der Arbeitnehmer*innen zu umgehen. Mit der Ratspräsidentschaft kann Deutschland seine Position nutzen, um das wichtige Thema Arbeits- und Gesundheitsschutz auf die Agenda zu setzen. Es gilt klarzumachen, dass die Sicherheit der Patient*innen unmittelbar mit dem Schutz des Personals zusammenhängt. Dazu gehört auch, dass genug Personal zur Verfügung steht.
Welche Veränderungen sind auf europäischer Ebene notwendig?
Herbert Beck: Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass viel getan werden muss, gerade mit Blick auf eine bessere Koordination und Kooperation der Länder. Dazu gehört, dass in Europa genug Schutzkleidung, Desinfektionsmittel, Beatmungsgeräte und Intensivbetten verfügbar sind. Um nicht abhängig von globalen Lieferketten zu sein, sollen zentrale Produktionsstellen aufgebaut und Vorräte gerecht verteilt werden. Ziel ist es, für künftige Pandemien besser gerüstet zu sein.
Was muss dafür passieren?
Herbert Beck: Vor allem muss das Gesundheitswesen finanziell besser ausgestattet werden. Zur Stärkung der Gesundheitssysteme hat die Europäische Kommission mit dem Programm „EU4 Health“ die richtige Richtung eingeschlagen. Sie hat dafür für die Jahre 2021 bis 2027 einen Etat von 9,4 Milliarden Euro vorgesehen. Doch bevor es überhaupt losging, hat der Rat das Budget auf 1,7 Milliarden Euro gekürzt. Stattdessen soll mehr Geld in die Wirtschaft fließen. Das ist fatal. Klar ist, dass es für eine nachhaltige Stärkung der Gesundheitsversorgung in Europa das ursprünglich geplante Budget braucht. Deutschland muss seine führende Rolle nutzen, um das Thema auf die Tagesordnung zu setzen und Druck aufzubauen. Dafür machen wir uns als ver.di stark.
Silvia Thimm ist bei ver.di und im Vorstand der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) aktiv. Die Krankenschwester war viele Jahre im Betriebsrat und ist Beauftragte für Arbeits- und Gesundheitsschutz in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik in Duisburg.
Herbert Beck vertritt ver.di im Europäischen Gewerkschaftsverband für den Öffentlichen Dienst (EGÖD) und in der Internationalen der Öffentlichen Dienste (IÖD).
Interview: Kathrin Hedtke
Berufsgenossenschaft Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW), Arbeits- und Gesundheitsschutz
030/6956-1815
dietmar.erdmeier@verdi.de