COVID-19

    »Der Fehler liegt im System«

    02.06.2020
    Grit Genster
    © shift/studio für verdi
    Grit Genster

    Die deutschen Kliniken haben die erste Welle der Corona-Pandemie erfolgreich überstanden. War die Kritik an den Zuständen im Krankenhauswesen übertrieben?

    Entscheidend war, dass hierzulande sehr frühzeitig alles dafür getan wurde, die Infektionsketten zu unterbrechen und so eine Überlastung der Krankenhäuser zu verhindern. Hätte die Bundespolitik nicht so schnell regulierend eingegriffen, hätte es zu einer exponentiell ansteigenden Zahl von Infektionen und schweren Erkrankungen kommen können – so, wie wir es in Norditalien und anderswo gesehen haben. Dann wären auch die deutschen Kliniken mit ihren 30.000 bis 40.000 Intensivbetten schnell an ihre Grenzen geraten.

    Es ist aber doch ein Faktor, dass es hierzulande gemessen an der Bevölkerungszahl mehr Intensivkapazitäten gibt als in anderen Ländern.

    Ja. Es hat sich gezeigt, wie wichtig es ist, entsprechende Kapazitäten vorzuhalten und weitere schnell aktivieren zu können. In Spanien und Italien haben wir auf dramatische Weise erlebt, was passiert, wenn das nicht der Fall ist. Klar ist aber auch: Die Kapazitätsgrenzen werden nicht vor allem durch die Zahl der Betten oder Beatmungsgeräte bestimmt, sondern durch das fehlende Personal. Dieses hätte im Falle einer schnelleren Ausbreitung der Pandemie nicht ausgereicht, alle Erkrankten adäquat zu versorgen. Hier besteht Handlungsbedarf.

    Der Staat hat im Zuge der Pandemie im Krankenhauswesen stark steuernd eingegriffen und zum Beispiel dafür gesorgt, dass die Kliniken Kapazitäten für Covid-19-Behandlungen freihalten und dies vergütet wird. War das richtig?

    Absolut. Diese Situation hat gezeigt, dass der Markt solche Dinge nicht regeln kann. Es braucht eine klare staatliche Steuerung. Problematisch ist allerdings, dass der über die Krankenhäuser gespannte Rettungsschirm löchrig ist. Vor allem in den Häusern der Maximalversorgung, wie den Unikliniken, ist die Pauschale von 560 Euro pro freigehaltenem Bett nicht ausreichend. In Krankenhäusern, die durchschnittlich weniger aufwendige Fälle versorgen, reicht das in der Regel. Kliniken mit vielen schwer kranken Patient*innen kommen mit der Pauschale aber nicht aus und machen Verluste. Nun soll über eine Verordnung nachjustiert werden. Dennoch werden Krankenhäuser mit einem breiten Versorgungsspektrum, insbesondere kommunale Maximalversorger, weiterhin wirtschaftliche Nachteile haben – obwohl sie in der Krise eine große Last tragen.

     
    Abb. 2: Angemessenheit von Ausgleichszahlungen – Krankenhäuser nach Bettengrößenklassen
    © Deutsches Krankenhausinstitut
    Abb. 2: Angemessenheit von Ausgleichszahlungen – Krankenhäuser nach Bettengrößenklassen

    Thinktanks wie die Bertelsmann-Stiftung und die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina haben in den vergangenen Jahren immer wieder gefordert, Krankenhäuser zu schließen, um »Überkapazitäten« abzubauen. Wie ist das vor dem Hintergrund der aktuellen Erfahrungen zu bewerten?

    Es ist schon interessant, welche Entwicklung die Wissenschaftler*innen der Leopoldina genommen haben. Noch vor vier Jahren haben sie vorgeschlagen, 1.400 Krankenhäuser in Deutschland zu schließen, weil diese überflüssig seien. In einer Stellungnahme vom 27. Mai 2020 betont die Leopoldina hingegen, dass Kapazitäten vorgehalten werden müssten und eine gute Personalausstattung durch »gesellschaftliche Wertschätzung, angemessene Entlohnung, attraktive und bedarfsgerechte Ausbildungsstrukturen und gute Arbeitsbedingungen« gesichert werden muss. Zudem betonen die Wissenschaftler*innen, dass an das Gesundheitssystem als integraler Bestandteil der Daseinsvorsorge »grundsätzlich nicht die gleichen wirtschaftlichen Maßstäbe angelegt werden wie in der freien, wettbewerbsorientierten Wirtschaft. Die Gestaltung eines adaptiven Gesundheitssystems, das auch Ausnahmesituationen meistern kann, ist eine staatliche Aufgabe.« Ich finde, das sind genau die richtigen Schlussfolgerungen aus der Pandemie.

    Die Leopoldina schlägt in dem Papier auch vor, das Finanzierungssystem der Fallpauschalen (Diagnosis Related Groups, DRG) weiterzuentwickeln, um die Vorhaltefinanzierung zu stärken und Fehlanreize zu vermeiden.

    Das geht aus meiner Sicht noch nicht weit genug. Das DRG-System selbst ist das Problem. Das hat sich auch darin ausgedrückt, dass die Krankenhäuser nicht genügend Schutzmaterial hatten. Der Grund hierfür ist, dass sich eine solche Vorsorge im DRG-System nicht rechnet. Dies ist nur ein Beispiel, das zeigt: Der Fehler liegt im System. In der Gesundheitsversorgung muss es immer um die bestmögliche Behandlung der Patientinnen und Patienten gehen, nicht darum, welche Erlöse man mit ihnen erzielen kann. Manchmal ist es sinnvoll, nicht zu operieren, sondern konservativ zu behandeln. Damit verdient ein Krankenhaus unter den jetzigen Bedingungen aber kein Geld. Gesundheit darf keine Ware sein. Während der Pandemie haben wir daher die Aussetzung des DRG-Systems gefordert. Langfristig muss es durch ein am tatsächlichen Versorgungsbedarf orientiertes Finanzierungssystem ersetzt werden. Bei wirtschaftlicher Betriebsführung müssen die anfallenden Kosten vollständig refinanziert werden, inklusive der notwendigen Vorhaltekosten.

    Ein Effekt und auch ein Ziel des DRG-Systems ist es, dass »unwirtschaftliche« Kliniken vom Markt verschwinden. Ein richtiger Ansatz?

    Auf keinen Fall. Es ist dramatisch, dass Krankenhäuser aus rein wirtschaftlichen Gründen schließen müssen. Gerade in der Pandemie zeigt sich: Gesundheitsversorgung ist Daseinsvorsorge. Die Entscheidung darüber, wo welche Kapazitäten vorgehalten werden, darf nicht dem Markt überlassen werden. Darüber muss politisch im Rahmen einer verbindlichen Krankenhausplanung entschieden werden. Auch Menschen in strukturschwachen Regionen brauchen eine gute Gesundheitsversorgung – selbst wenn sich das »nicht rentiert«. Bei der Feuerwehr fragt schließlich auch niemand, ob sich die Vorhaltekosten rechnen.

     
    DRG abschaffen
    © ver.di Saar Trier
    Demo der Krankenhausbeschäftigten 12.10.13

    Das DRG-System übt auf alle Krankenhäuser – auch die wirtschaftlich »gesunden« – einen starken Kostendruck aus. Wie funktioniert das?

    Die Crux ist, dass sich das System an bundesweiten Durchschnittskosten orientiert. Das hat nichts mit Effizienz zu tun, denn die Kosten einer guten Versorgung können in den jeweiligen Krankenhäusern je nach Größe, Sozialstruktur der Region etc. unterschiedlich sein. Kliniken, die über dem Durchschnitt liegen, sind gezwungen, ihre Ausgaben zu reduzieren. Andere, die weniger ausgeben – zum Beispiel, weil sie sich auf lukrative Fälle spezialisieren oder ihr Personal schlecht bezahlen – machen Gewinne. Das setzt völlig falsche Anreize.

    Die Krankenhäuser haben auf den Kostendruck in aller Regel damit reagiert, Personal abzubauen und die Arbeit zu verdichten – speziell in der Pflege und im Servicebereich.

    Das ist richtig. Die Fallpauschalen haben zur Arbeitsverdichtung, aber auch zur Tarifflucht beigetragen. Insbesondere in den Dienstleistungsbereichen werden die Kosten gedrückt, indem Beschäftigte ausgegliedert und schlechter bezahlt werden, weil keine Tarifverträge mehr gelten. Auch für die Versorgungsqualität ist das schlecht, da es die Zusammenarbeit der Berufsgruppen erschwert. Es muss wieder das Prinzip »ein Krankenhaus – eine Belegschaft« gelten. Dafür streitet ver.di gegenüber den Arbeitgebern und der Politik.

    Wenn wir der permanenten Leistungsverdichtung einen Riegel vorschieben wollen, ist die Durchsetzung verbindlicher und bedarfsgerechter Personalstandards essentiell. Gemeinsam mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) und dem Deutschen Pflegerat haben wir ein Instrument für eine bedarfsgerechte Personalbemessung entwickelt – die PPR 2.0. Sie ist kurzfristig einsatzfähig und wir erwarten gemeinsam mit der DKG, dass sie zum 1. Januar 2021 eingeführt wird. Am Bedarf orientierte Personalvorgaben tragen zu einer guten Patientenversorgung bei und machen den Beruf attraktiver. Sie sind nicht nur in der Pflege nötig, sondern in allen Bereichen der Krankenhäuser.

    Wenn die Krankenhäuser ihre Kosten ständig drücken, warum steigen dann die Gesamtausgaben für die Kliniken, wie Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) beim von seinem Ministerium veranstalteten »Town Hall Meeting« betonte?

    Die Gesamtausgaben steigen trotzdem, weil immer mehr Patientinnen und Patienten stationär behandelt wurden. Vor allem die privaten Träger haben ihre Fallzahlen deutlich erhöht. Dass ein Teil davon medizinisch unnötig ist, hat Spahn selbst zugegeben. Hinzu kommt, dass kommerzielle Träger Gewinne machen wollen. Das Krankenhauswesen wird vollständig aus Sozialbeiträgen und Steuern finanziert, daher sollte ihm kein Geld entzogen werden dürfen. Sonst fehlt es für eine gute Versorgung.

     

    »Das Krankenhauswesen wird vollständig aus Sozialbeiträgen und Steuern finanziert, daher sollte ihm kein Geld entzogen werden dürfen. Sonst fehlt es für eine gute Versorgung.«

    Grit Genster

    Oft werden die Gewinne der Gesundheitskonzerne dazu verwendet, andere Unternehmen aufzukaufen. Aktuelles Beispiel: die Übernahme der Rhön-Klinikum AG durch Asklepios, wodurch der Hamburger Betreiber hinter Helios zur zweitgrößten Klinikkette wird.

    Wir sehen diese Entwicklung sehr kritisch. Gerade Asklepios setzt flächendeckend auf Outsourcing und Tarifflucht. Mit den dadurch erzielten Profiten geht der Konzern jetzt auf Shoppingtour – ein Unding! Das schadet nicht nur den Beschäftigten unmittelbar, sondern auch der Attraktivität der Berufe im Gesundheitswesen. Sich so zu verhalten und andererseits lautstark den Fachkräftemangel zu beklagen, passt nicht zusammen. Wie die Rhön-Übernahme abläuft, wirft ein Schlaglicht auf die Fehlentwicklungen im Gesundheitswesen: Da pokern drei schwerreiche alte Männer – die Eigentümer von Rhön, Asklepios und des Medizintechnikherstellers B. Braun – mit allen Tricks um Macht und Einfluss. Die Interessen der Patient*innen und der Beschäftigten kommen da gar nicht vor.

    Die Kritik an dieser Kommerzialisierung nimmt zu, wie auch das genannte Papier der Leopldina zeigt. Fühlt sich ver.di dadurch bestärkt?

    Ja. Wir setzen uns seit langem dafür ein, dass das Gesundheitssystem am Gemeinwohl ausgerichtet ist. Es sollten grundsätzlich keine kommunalen oder freigemeinnützigen Kliniken mehr an kommerzielle Träger verkauft werden. Bereits privatisierte Einrichtungen sollten rekommunalisiert werden. Damit die Beiträge der Versicherten tatsächlich vollständig für eine gute Versorgung eingesetzt werden und nicht am Ende in den Taschen von Aktionären landen. Dass die Leopoldina und andere zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommen ist gut. Wir müssen aber weiter Druck machen, damit solche Stellungnahmen nicht in Vergessenheit geraten.

    Die gesetzliche Krankenversicherung steuert in eine schwierige finanzielle Lage hinein. Es tun sich Milliardenlöcher auf und es kann nicht sein, dass die Beitragszahler*innen die Zeche bezahlen. Es darf nicht zu Verteilungskonflikten kommen, bei denen Versicherte und Beschäftigte die Verlierer*innen sind. Auch deshalb sind Systemveränderungen nötig. Wir setzen uns nicht nur in der Pflegeversicherung für eine solidarische Finanzierung ein. Nach wie vor plädieren wir für die Bürgerversicherung, um dem Gesundheitswesen ein solides und solidarisch finanziertes Fundament zu geben.

     

    »Investitionen in die Krankenhäuser müssen ein zentraler Bestandteil davon sein.«

    Grit Genster

    Auch in den Kommunen tun sich riesige Finanzlöcher auf. Könnte das nicht – trotz all der genannten Erkenntnisse – dazu führen, dass in den kommenden Jahren noch mehr Krankenhäuser privatisiert oder geschlossen werden?

    Dazu darf es nicht kommen. Deshalb setzt sich ver.di für einen kommunalen Rettungsschirm ein, um die kommunalen Leistungen der Daseinsvorsorge zu sichern. Insgesamt muss die öffentliche Hand dauerhaft besser finanziell ausgestattet sein. Das geht nur, indem sich alle Teile der Gesellschaft entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit an der Finanzierung der Daseinsvorsorge beteiligen. Das heißt: mehr Steuergerechtigkeit.

    Der Kostendruck in den Krankenhäusern entsteht nicht nur aus dem DRG-System, sondern auch aufgrund mangelnder Finanzierung von Investitionen. Nach Angaben der Krankenversicherungen und der Klinikbetreiber sind die Zuschüsse der Bundesländer um jährlich rund drei Milliarden Euro zu niedrig.

    In dieser Analyse sind wir uns mit den Krankenhausgesellschaften einig. Die Bundesländer müssen dringend ihrer Verpflichtung zur Finanzierung von Investitionskosten nachkommen. Wir halten die duale Krankenhausfinanzierung – der laufende Betrieb wird von der Sozialversicherung bezahlt, die Investitionen von den Ländern – nach wie vor für sinnvoll. Das beinhaltet auch die Planung der regionalen Krankenhausversorgung durch die Länder. Doch diese müssen dann auch die nötigen Investitionen finanzieren. Sonst sparen die Kliniken beim Personal und an der Versorgung der Patient*innen, um mit dem Geld die Sanierung von Gebäuden oder die Anschaffung von Geräten zu bezahlen. Das hat massiv zu der fatalen Arbeitsverdichtung der vergangenen Jahre beigetragen. In diesem Zusammenhang und um dem wirtschaftlichen Einbruch entgegenzuwirken, setzt sich ver.di für ein Konjunktur- und Investitionsprogramm von mindestens 100 Milliarden Euro ein. Investitionen in die Krankenhäuser müssen ein zentraler Bestandteil davon sein.

    Blick in die Zukunft: Wenn aus den aktuellen Erfahrungen die richtigen Konsequenzen gezogen werden – wie sieht dann in zehn Jahren das deutsche Krankenhauswesen aus?

    Von nichts kommt nichts. Wenn wir Druck machen und wenn diejenigen, die jetzt gute Stellungnahmen abgeben, dem auch Taten folgen lassen, kann sich einiges bewegen. Dann haben wir in zehn Jahren ein gemeinwohlorientiertes Krankenhauswesen, das eng mit der ambulanten Versorgung verzahnt ist und eine flächendeckend gute Grundversorgung und zugleich Spezialisierungen bietet. Wir haben bedarfsgerechte Personalvorgaben für die Pflege, aber auch für alle anderen Berufsgruppen im Krankenhaus. Gute Tarifverträge stellen attraktive Arbeitsbedingungen und eine angemessene Bezahlung sicher. So dass die systemrelevanten Berufe wertgeschätzt und entsprechend bezahlt werden. Zudem gibt es ein solidarisches Finanzierungssystem, dass eine solide Grundlage für eine gute Versorgung bietet. Das alles kommt aber nicht von allein. Dafür müssen wir gemeinsam streiten.

     

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