Tarifverträge sind auch für kirchliche Betriebe ein normales Mittel, um Lohn- und Arbeitsbedingungen festzuschreiben. Das heißt in der Praxis noch nicht, dass für alle kirchlichen Einrichtungen Tarifverhandlungen stattfinden und Tarifverträge gelten. Möglich wäre das aber in allen Einrichtungen. Es gibt keine rechtlichen Gründe (staatlicher Gesetzgebung), die dagegensprächen. Weit verbreitet scheint aber die Ansicht, in kirchlichen Betrieben müssten in Bezug auf die Lohn- und Arbeitsbedingungen kirchliche Regeln gelten. Scheinbar ist das ein Ergebnis von 70 Jahren kirchlicher Doktrin und einer verselbständigten arbeitsrechtlichen Nebenrechtsordnung. Richtig ist hingegen: Die Anwendung von Arbeitsvertragsrichtlinien zur Festlegung von Lohn- und Arbeitsbedingungen für Beschäftigte in kirchlichen Betrieben ist nicht zwingend. Vielmehr können die AVR durch Tarifverträge verdrängt werden. Wie ist das möglich? Die Antwort ist einfach: Beschäftigte werden aktiv. Sie entscheiden sich dafür, ihre Bedingungen zukünftig selbst zu beeinflussen, organisieren sich in ver.di, werden viele, erreichen so Durchsetzungsfähigkeit und können ihre Arbeitgeber gemeinsam mit ver.di zu Tarifverhandlungen auffordern.
Etwaigen (kirchen-)juristischen Bedenken sei an dieser Stelle folgendermaßen Rechnung getragen: Ob zu Tarifverhandlungen aufgefordert werden kann oder nicht, ist keine ausschließlich juristische Entscheidung. Sie wird maßgeblich im Betrieb entschieden: Gibt es genügend organisierte Beschäftigte, die Forderungen aufstellen und bereit sind, diese falls nötig auch durchzusetzen? Das ist eine vorrangig gewerkschaftliche, nicht juristische Frage.
Sowohl im evangelischen als auch im katholischen Bereich werden derzeit mehrheitlich Arbeitsvertragsrichtlinien einzelvertraglich zur Anwendung gebracht. Dennoch gibt es bereits eine Reihe von Tarifverträgen, die für kirchliche Einrichtungen (bislang ausschließlich evangelische bzw. diakonische) gelten. Dabei handelt es sich zum einen um Haustarifverträge, die für eine zwei- oder dreistellige Zahl von Arbeitnehmer*innen bis hin zu mehreren tausend Beschäftigten gelten. Zum anderen gibt es aber auch regionale Flächentarifverträge, deren Geltungsbereiche mehrere tausend oder zehntausend Beschäftigte umfassen, zum Beispiel der kirchliche Tarifvertrag der Diakonie (KTD) oder der Tarifvertrag für die evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (TV EKBO). Der Tarifvertrag für die Diakonie Niedersachsen (TV DN) betrifft beispielsweise rund 38.000 Beschäftigte.
Die zunehmende Zahl von Tarifabschlüssen im vergangenen Jahrzehnt zeigt, dass das Dogma unter Druck gerät, Lohn- und Arbeitsbedingungen für Beschäftigte in kirchlichen Einrichtungen müssten durch kirchenrechtliche Regeln (und damit verbundene Einschränkungen) festgelegt werden. Es werden weitere Tarifverhandlungen folgen. Innerhalb der Diakonie in Baden, Bayern, Hessen, Mitteldeutschland, Württemberg und anderswo mobilisieren Gewerkschafter*innen in den Betrieben und werben für verbindliche Arbeitsbedingungen per Tarifvertrag. Doch auch gliedkirchen- und diözesenübergreifend ist zu erwarten, dass Tarifverträge in ihrer Schutzfunktion für Beschäftigte bzw. zur aktiven Gestaltung der eigenen Arbeitsbedingungen an Bedeutung gewinnen werden. Die Konzentrations- und Fusionsprozesse der kirchlichen Unternehmen sind in vollem Gange, sowohl unter dem Dach der Diakonie als auch der Caritas. Beispielhaft sei hier der diakonische Konzern Agaplesion genannt, der mittlerweile in Bezug auf Umsatz und Beschäftigte hinter kommerziellen Konzernen wie Helios, Asklepios und Sana die Nummer vier »auf dem Markt« ist. Der größte caritative Konzern ist die Marienhaus Unternehmensgruppe, die 2018 rote Zahlen geschrieben hat. Wie Agaplesion umfasst er unter anderem Krankenhäuser und Einrichtungen der Altenhilfe. Um den Konzern zu sanieren, hat Marienhaus einen Ex-Vorstand der Asklepios-Kliniken verpflichtet, der bereits verkündet hat, Outsourcing und Kündigungen nicht auszuschließen. Die negativen Tendenzen sind auch im Bereich der Caritas nicht mehr zu leugnen: Im Konzern der Stiftung Liebenau findet unter dem Dach der Caritas seit Jahren Lohndrückerei in dessen Altenhilfeeinrichtungen mit insgesamt rund 850 Beschäftigten statt. Der Arbeitgeber hat bislang eine bischöfliche Ausnahmegenehmigung für die Einrichtungen erhalten, um die AVR der Caritas nicht anwenden zu müssen. Im Januar 2020 haben die Tarifverhandlungen zwischen ver.di und dem Arbeitgeber mit dem Ziel begonnen, den tariflosen Zustand zu beenden.
Unabhängig von der unmittelbaren Geltung der durch ver.di ausgehandelten Tarifverträge für Beschäftigte in kirchlichen Betrieben – Tarifverträge haben auch eine maßgebliche Wirkung auf die Lohn- und Arbeitsbedingungen, die in den Arbeitsvertragsrichtlinien festgelegt werden. Wie kommt das? Allen voran ist der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) der Tarifvertrag mit der größten, mittelbaren Auswirkung. Es hat Tradition, dass die Abschlüsse des öffentlichen Dienstes im Bereich der Caritas durch das Engagement der Arbeitnehmervertreter*innen im Grundsatz übernommen werden. Es ist jedoch festzustellen, dass das zunehmend schwieriger wird, weil die Arbeitgeber punktuelle Veränderungen in den Arbeitsvertragsrichtlinien zu ihren Gunsten vornehmen wollen. Das betrifft immerhin Arbeitsvertragsrichtlinien, die für rund 660.000 Beschäftigte Anwendung finden (sollen). Das bedeutet zwei Dinge: Einerseits erkämpfen die in ver.di organisierten Beschäftigten des öffentlichen Dienstes regelmäßig mit Hilfe von Aktionen und Streiks Lohnerhöhungen und andere Verbesserungen der Arbeitsbedingungen, von denen im Bereich der Caritas Hunderttausende ebenfalls profitieren. Andererseits nutzen die katholische Kirche und ihre Caritas das Ergebnis eines Verhandlungssystems, das sie strikt ablehnen, um es abzuschreiben.
Der Wille, gute Lohn- und Arbeitsbedingungen für die eigenen Beschäftigten regeln zu wollen, ist zwar zu erkennen. Es erscheint jedoch ausschließlich ideologisch und durch den unbedingten Willen zum Machterhalt begründet, dass die Arbeitgeber nicht einfach Tarifpartner im öffentlichen Dienst werden. Lieber verwehrt die Kirche per Kirchenrecht ihren Beschäftigten eine unmittelbare Beteiligung am Tarifgeschehen, gemeinsam mit den Kolleg*innen im öffentlichen Dienst. Auf diese Weise bleibt die Einschränkung grundlegender Beschäftigtenrechte erhalten, ebenso die Möglichkeit der Arbeitgeber, Regelungen eventuell (zuungunsten der Beschäftigten) abgewandelt in die AVR zu übernehmen. Eine unmittelbare Tarifbindung würde nämlich bedeuten, dass Arbeitgeber nicht mehr einzelvertraglich davon abweichen können – wie jetzt bei den AVR noch möglich. Ein unmittelbarer und zwingender Tarifvertrag wäre ein enormer Vorteil für die Beschäftigten und ein wesentlicher Nachteil für die Flexibilität der Arbeitgeber. Eine direkte Beteiligung an den Tarifverhandlungen des öffentlichen Dienstes hätte zudem einen weiteren, sehr wichtigen Aspekt: Es wäre solidarisch, wenn Beschäftigte der Caritas nicht ausschließlich von den Kämpfen der organisierten Kolleg*innen im öffentlichen Dienst profitieren würden, sondern sie gemeinsam für gute Löhne und Arbeitsbedingungen streiten würden. Für den Bereich der Diakonie spielt der TVöD aufgrund der gliedkirchlichen, zersplitterten Tarifstruktur mit vielen verschiedenen Arbeitsrechtlichen Kommissionen keine derart zentrale Referenzrolle wie bei der Caritas. Das spiegelt sich in sehr unterschiedlichen Niveaus der Bezahlung wieder. In den beiden verfasst-kirchlichen Bereichen werden hingegen im Wesentlichen die Abschlüsse des öffentlichen Dienstes nachvollzogen, soweit nicht wie oben dargestellt bereits eigene Tarifverträge gelten.
Auszug aus ver.di-Streitschrift zum kirchlichen Sonderweg im Arbeitsrecht – Tarifverträge in kirchlichen Betriebe, 2., aktualisierte Auflage Februar 2020, S. 33 ff.
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