Willkür und Widersprüche

Interessenvertreter*innen kirchlicher Betriebe kritisieren bei Fachtagung die Benachteiligung von Beschäftigten in Kirchen, Diakonie und Caritas.
25.03.2024

Gekündigt werden, weil man aus der Kirche austritt? Probleme bei der Arbeit bekommen, weil man sich angeblich »kirchenfeindlich« verhalten hat? Bei der Einstellung Sorge haben, ob man als Hebamme »verkündungsnah« tätig ist und deshalb Kirchenmitglied sein sollte? All das ist möglich, im Jahr 2024, in Deutschland, beim zweitgrößten Arbeitgeber des Landes, den kirchlichen Trägern.

Vielen Beschäftigten sind die Sonderregeln bei den Kirchen und ihren Wohlfahrtsverbänden Diakonie und Caritas nicht bewusst. Und so werden sie oft erst dann zum Problem, wenn sie sie selbst betreffen. Dann stellen Beschäftigte nicht nur fest, dass bei kirchlichen Arbeitgebern zum Teil andere Regel gelten als in weltlichen Betrieben, sondern dass diese oft auch nicht zu durchschauen sind. Warum eine Entscheidung wie getroffen wird, bleibt vielfach im Dunkeln. Mitbestimmung der Beschäftigten? Fehlanzeige. Gegen diese Ungleichbehandlung, Undurchsichtigkeit und Willkür regt sich schon seit Längerem Widerstand – und er formiert sich immer weiter.

 
Fachtagung zum kirchlichen Arbeitsrecht am 4./5. März 2024

Klarer Appell an die Politik

Im März trafen sich kirchlich Beschäftigte und Interessenvertretungen in der ver.di-Bundesverwaltung in Berlin, um sich über aktuelle Änderungen im kirchlichen Arbeitsrecht zu informieren, sich auszutauschen und gegenseitig zu bestärken. »Ich weiß, dass wir gemeinsam viel bewegen können«, betonte der Heilerziehungspfleger Tobias Warjes, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der Mitarbeitervertretungen in den Diakonischen Werken Niedersachsens (agmav) zu Beginn der zweitägigen Fachtagung. Zu diesem Zeitpunkt hatten bereits mehr als 37.000 Menschen die von ver.di-Aktiven initiierte Petition zur Abschaffung des kirchlichen Arbeitsrechts unterzeichnet.

»Wir müssen weiter Druck machen, damit Gesetze geändert werden«, ergänzte Grit Genster. Die Leiterin des ver.di-Bereichs Gesundheitswesen und Gesundheitspolitik, zu dem auch kirchlich Beschäftigte gehören, richtete einen klaren Appell an die politisch Verantwortlichen: »Die Bundesregierung muss jetzt handeln, es reicht nicht, einen Prüfauftrag abzuarbeiten.« Dieser steht im Koalitionsvertrag und scheint aus Sicht der Ampelkoalition inzwischen erfüllt zu sein. Doch geändert hat sich an den Gesetzen und der Realität in kirchlichen Betrieben bisher: nichts.

 

»Wir müssen uns das Streikrecht nehmen«

Besonders drei Punkte waren für die rund 150 Teilnehmenden der Fachtagung immer wieder Thema: erstens das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, das für kirchlich Beschäftigte Diskriminierung zulässt; zweitens die Tatsache, dass die Mitbestimmung für Beschäftigte in kirchlichen Betrieben deutlich schwächer ist als im Betriebsverfassungsgesetz; und drittens die Frage nach der Beteiligung der Beschäftigten an der Festlegung ihrer Löhne und Arbeitsbedingungen. Ist es als letztes Mittel zur Durchsetzung guter Tarifverträge auch in kirchlichen Betrieben erlaubt, die Arbeit niederzulegen? Die Antwort: ja. Auch Beschäftigte bei Diakonie, Caritas und Kirchen haben laut Grundgesetz das Recht zu streiken.

Dennoch behaupten kirchliche Arbeitgeber immer wieder das Gegenteil. »Ihr könnt euch sicher sein: Wenn ver.di zum Streik aufruft, haben wir das geprüft, erklärte die Juristin Prof. Dr. Nadine Brandl, die den ver.di-Bereich Recht und Rechtspolitik leitet. Dass dies keine theoretische Frage ist, machte Jochen Dürr von der Arbeitsgemeinschaft der Mitarbeitervertretungen der Diakonie Württemberg auf Grundlage eigener Erfahrungen klar: »Wir müssen uns das Streikrecht nehmen und noch viel mehr Kolleg*innen ermutigen, mitzumachen. Es zeigt sich, wenn man es einmal durchgezogen hat, macht es Spaß und bringt gute Ergebnisse.«

 
Prof. Dr. Nadine Brandl

Darf die Kirche diskriminieren?

Dass das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, kurz AGG, in kirchlichen Betrieben nicht vollständig gilt, sorgte bei der Fachtagung für viel Kopfschütteln. Zumal der § 9 AGG mit dem Diskriminierungsprivileg für die Kirchen nicht europarechtskonform ist. Eine Reform bereite die Bundesregierung gerade vor, berichtete ver.di-Juristin Brandl. Ob dort der strittige § 9 gestrichen wird, wie ver.di es fordert, ist allerdings offen. Die Unsicherheit für die Beschäftigten bleibt bestehen. Was passiert beispielsweise, wenn jemand während eines Arbeitsverhältnisses etwa in der Schwangerschaftsberatung aus der Kirche austritt?

Oder, wie im Falle der Hebamme Sandra Eltzner, jemand schon bei der Einstellung angibt, konfessionslos zu sein, und kurz nach Antritt der Stelle dennoch die Kündigung ins Haus flattert? Sie zog bis vor den Europäischen Gerichtshof, um genau das zu klären. Doch ihr Arbeitgeber knickte ein und bot ihr am Ende einfach die alte Stelle wieder an – wohl um ein Grundsatzurteil zu vermeiden. Unbefriedigend für Sandra Eltzner, die das Angebot nicht annahm, da sie als selbstständige Hebamme mittlerweile Verpflichtungen gegenüber den von ihr betreuten Müttern hat. Mehr Klarheit für andere kirchlich Beschäftigte, auf die viele warten? Fehlanzeige! Beschäftigte kirchlicher Einrichtungen, die einer Religion angehören, können weiterhin anders behandelt werden als ihre konfessionslosen Kolleg*innen in gleicher Tätigkeit.

 

Das Problem sei vor allem die erhebliche rechtliche Unsicherheit, erklärte Professor Dr. Hartmut Kreß von der Evangelisch-Theologischen Fakultät an der Universität Bonn. Wo seien Loyalitätspflichten gerechtfertigt und wo werde die Grenze gezogen? Viele Begriffe blieben unklar, Gerichtsurteile fielen unterschiedlich aus. Vor Ort würden einzelne Fälle vielleicht liberaler gehandhabt als andere, aber eben nicht alle. Abgesehen davon habe es gewisse Verbesserungen in der katholischen Grundordnung gegeben. »Aber die können von der katholischen Kirche auch wieder zurückgenommen werden«, warnte Kreß.

Bei der Diakonie erlebe er ebenfalls viele Widersprüchlichkeiten. So könnten Loyalitätsanforderungen nach der Neufassung der Mitarbeitsrichtlinie der EKD von jeder Einrichtung unterschiedlich festgelegt werden. Das Fazit des Theologen: »Wir müssen die Gesetze ändern, damit die kirchlichen Sonderregeln außer Kraft gesetzt werden.«

Das sahen die Vertreterinnen der Caritas und der katholischen Stiftung Liebenau bei der Podiumsdiskussion der Fachtagung erwartungsgemäß anders. Für sie sei es wichtiger, dass die Beschäftigten die Werte des Arbeitgebers teilten. »Menschen guten Willens«, hieße es schließlich in der katholischen Grundordnung. Daniel Wenk, Mitglied der Sprechergruppe der Bundeskonferenz diakonischer Mitarbeitervertretungen, ließ das nicht gelten. »Jeder kann jetzt selbst die Grenze ziehen, wo er seine Verkündigungsnähe sieht. Das ist Willkür!« Dafür gab es viel Applaus.

 

Starke Mitarbeitervertretungen?

Die Meinungen gingen auch in Bezug auf die betriebliche Mitbestimmung weit auseinander. Während die Caritas-Direktorin im Erzbistum Berlin, Prof. Dr. Ulrike Kostka, sich für das kirchliche Arbeitsrecht aussprach, weil es viel Mitbestimmung ermögliche, und Elke Gundel, Geschäftsführerin Liebenau Teilhabe, jetzt auch schon »starke MAVen« erlebe, machte Daniel Wenk auf einen entscheidenden Unterschied aufmerksam: »Die MAV hat in den wichtigen sozialen Angelegenheiten wie zum Beispiel Arbeitszeit und Arbeitsschutz deutlich schwächerer Rechte als ein Betriebsrat. Wenn Sie da von starken MAVen sprechen, verstehe ich die Welt nicht mehr.« Auch von einer starken Sozialpartnerschaft könne nicht die Rede sein, wenn die Gewerkschaften draußen gehalten werden sollen. »Wenn man den Beschäftigten eine starke Stimme geben will, dann regelt man Arbeitsbedingungen über Tarifverträge«, forderte Wenk.

Aus dem Publikum kam ein weiteres Argument gegen das kirchliche Arbeitsrecht. Susanne Eichler, die beim Badischen Landesverein für Innere Mission beschäftigt ist, erinnerte an die Art und Weise, wie das evangelische Mitarbeitervertretungsgesetz reformiert wurde. »Das hat die Synode gemacht. Da gab es weder ein Rederecht noch irgendeine Mitbestimmung, vielleicht ein Eingaberecht. Bitte, wo sehen Sie denn da ein Mitbestimmungsrecht?« Der ehemalige MAV-Vorsitzende einer Caritas-Einrichtung, Christoph Mock, ging noch einen Schritt weiter: Warum gebe es überhaupt noch Unterschiede zu Betriebsräten, fragte er. »Ich halte das kirchliche Arbeitsrecht für ein Instrument gegen die Solidarität der Beschäftigten. Was hindert Sie als kirchliche Arbeitgeber, besonders vorbildlich zu sein?« Die Frage blieb unbeantwortet. Auch Vorschläge für eine Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes soll es laut Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) noch geben. Aber wie sie aussehen werden, ist völlig offen.

 

Gleiche Rechte fallen nicht vom Himmel

Auffallend häufig fielen im Laufe der zwei Tage in Bezug auf das kirchliche Arbeitsrecht die Worte »scheinheilig«, »unglaubwürdig« und »widersprüchlich«. Und doch gebe es die begründete Hoffnung, etwas ändern zu können, gemeinsam. Das gilt für die Arbeit im Betrieb, zu der Rechtsanwalt Bernhard Baumann-Czichon zahlreiche Fragen beantwortete und praktische Tipps gab. Wissen ist Macht, gilt eben für Mitarbeitervertretungen ebenso wie für Betriebs- und Personalräte. Das gilt für den Druck auf die Politik, wie viele der Teilnehmenden eindrucksvoll bewiesen, als sie nach der Fachtagung direkt zur Übergabe der Petition vor das Bundesarbeitsministerium weiterzogen.

Und das gilt schließlich für die Macht der vielen, wie Tobias Warjes schon zu Tagungsbeginn sagte. Weil gleiche Rechte nicht vom Himmel fallen, wie auf einigen der Protestplakaten der kirchlich Beschäftigten stand. Was das bedeutet, brachte Sabrina Wipprecht, MAV-Vorsitzende des Diakonischen Werks im Landkreis Lörrach und Mitglied im Gesamtausschuss Baden, auf den Punkt: »Wir wollen nicht mehr, wir wollen nichts anderes, wir wollen das Gleiche wie alle anderen Beschäftigten auch.«

 

Informieren – aktiv werden

Du hast Fragen zum kirchlichen Arbeitsrecht, willst dich als MAV-Mitglied weiterbilden oder dich für gleiche Rechte einsetzen? Dann bist du bei ver.di genau richtig. Hier findest du Antworten kannst dich schulen lassen, bekommst alle Infos zur ver.di-Petition und triffst bei Veranstaltungen wie der Fachtagung viele erfahrene Kolleg*innen. Mach mit, werde Mitglied.

 

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