Für Jürgen Wasem, Professor für Medizinmanagement an der Universität Duisburg-Essen, ist der Pflegemangel in den Krankenhäusern in Deutschland nur mit verbindlichen Personalvorgaben zu beheben. In einer Studie, die von ver.di in Auftrag gegeben wurde, hat Wasem mit seinem Team die Mechanismen unter die Lupe genommen, die zu den Einsparungen bei der Pflege führten. In einem Interview mit verdi.de zeigt Wasem auf, dass seiner Ansicht nach Handlungsbedarf besteht: „Wir nähern uns einer gefährlichen Pflege“", sagt er. Und fügte hinzu: „Das kann keiner wollen.“ Wasem plädiert einerseits für ein Personalbemessungssystem, andererseits dringt er in dem Gutachten darauf, dass die Frage, wer für die Investitionskosten der Kliniken zuständig ist, endlich zufriedenstellend geklärt wird.
Sind die so genannten Fallpauschalen schlecht für die Pflege?
Wasem: Das kann man so nicht sagen. Nichts ist hier schwarz – weiß. Die DRGs (Diagnosis Related Groups), die diagnosebezogenen Fallgruppen, haben eine ganze Reihe Vorteile, und zwar für alle – für die Kliniken, die Krankenkassen und die Patienten. Die Pflegekosten werden in den Fallpauschalen sehr wohl berücksichtigt. Richtig ist aber auch, dass die Fallpauschalen zu einem Kellertreppeneffekt bei den Pflegekosten geführt haben.
Kellertreppeneffekt? Was genau ist damit gemeint?
Wasem: Es geht um Folgendes: 300 Krankenhäuser sind Referenz für die Fallpauschalen. Denn die Höhe der Pauschalen richtet sich nach den tatsächlichen Kosten in den Krankenhäusern. Das heißt: Die Referenzkrankenhäuser geben an, welche Kosten für welchen Bereich bei ihnen anfallen. Wenn sie bei der Pflege sparen – und das haben sie getan – , sorgen sie dafür, dass der Kalkulationsansatz bei der Fallpauschale sinkt. Und damit erhöht sich der Druck bei allen Kliniken, auch weniger für die Pflege auszugeben. Was wiederum zur Folge hatte und auch weiter hat, dass bei der nächsten Kalkulationsrunde die Referenzkrankenhäuser erneut die Ausgaben senken, was wiederum zu niedrigeren Sätzen bei der Fallpauschale führt.
Gleichzeitig haben die Kliniken zusätzliche Ärzte eingestellt.
Wasem: Genau. Mit mehr Ärzten kann die Klinik mehr Patienten behandeln. Ärzte bringen das Geld. Die Kliniken stehen im Wettbewerb und müssen sich natürlich entsprechend aufstellen. Vor allem, weil es nach wie vor zu viele Krankenhäuser gibt. Beispiel Nordrhein-Westfalen: Hier leben etwa so viele Menschen wie in den Niederlanden. Aber in Nordrhein-Westfalen gibt es drei Mal so viele Krankenhäuser wie in Holland. Das bedeutet: Die Kliniken arbeiten unter schwierigen Rahmenbedingungen. Vor allem, weil die Politik zwar über zu viele Krankenhausbetten klagt. Die Landespolitiker, die hier zuständig sind, haben aber kein Interesse daran, dies zu ändern. Denn dabei legt man sich mit der Bevölkerung an, die in der Regel dagegen ist, selbst kleine Kliniken zu schließen. Die meisten Häuser, die für verzichtbar gehalten wurden, gibt es nach wie vor.
Aber generell eignet sich die Verweildauer auch nicht für eine Schwarz-Weiß-Sicht. Die Fallzahlen haben sich schon vor der Einführung der Fallpauschalen erhöht, auch die Verweildauer in den Kliniken ist nicht erst mit dem Fallpauschalen gesunken, sondern schon vorher. Es sind die Krankenhäuser, die bestimmen, für welchen Bereich sie ihr Geld ausgeben. Richtig aber ist, dass die Fallpauschalen derzeit aber auch nicht die Pflege unterstützen. Darauf sind die Fallpauschalen auch nicht ausgelegt.
Was sind genau die Vorteile der Pauschalen?
Wasem: Die DRG’s geben den Krankenhäusern Freiräume, die sie auch dringend gebraucht haben. Sie sind zudem transparent. Die Kliniken wissen, wofür sie ihr Geld bekommen. Für die Patientinnen und Patienten hat sich die Verweildauer weiter reduziert. Und das ist gut so. Denn es ist für Kranke nicht akzeptabel, dass sie in den Kliniken behalten werden, nur damit die Betten belegt sind – wie es vor den Fallpauschalen immer wieder vorkam. Zudem fördern die Fallpauschalen die Spezialisierung der Kliniken. Auch das ist gewünscht und gut so. Denn es liegt auf der Hand, dass Kliniken, die oft mit einer bestimmten Krankheit zu tun haben, in der Regel besser therapieren als ein Haus, dem nur ab und an eine bestimmte Krankheit unterkommt. Spezialisierung nützt aber nicht nur den Kliniken, die effizienter arbeiten, die ihre Technik besser auslasten können. Spezialisierung nützt vor allem den Patientinnen und Patienten, denn sie werden besser behandelt.
Was kann eine Personalbemessung bringen?
Wasem: In unserem Gutachten zeigen wir auf, dass unter den derzeitigen Bedingungen letztlich nur eine verbindliche Personalbemessung dafür sorgt, dass die Pflege wieder den Stellenwert in den Kliniken bekommt, den sie braucht. Eine Umfrage unter Geschäftsführern, Chefärzten und Pflegedirektoren, die wir jüngst durchgeführt haben, zeigt, dass alle Gruppen gegenwärtig größere Versorgungsdefizite im Bereich der Pflege sehen. Daher muss der Gesetzgeber etwas tun. Auch wenn eine verbindliche Personalbemessung Nachteile hat – so hemmt sie etwa Innovationen – denke ich, dass letztlich an ihr kein Weg vorbei führt. Die als notwendig ausgewiesenen Stellen müssen dann auch voll finanziert werden.
Welche Art der Personalbemessung wäre sinnvoll?
Wasem: Wir haben uns Regelungen angeschaut, die es in anderen Ländern gibt. Aber wir müssen sagen: Sie sind einerseits nur schwer auf unsere Situation hier in Deutschland übertragbar, andererseits ist keines dieser Systeme perfekt. Und man muss sich Folgendes klarmachen: Wenn ich schnell Änderungen hervorrufen will, dann halte ich mich an Regelungen, die in Deutschland existieren. Entsprechende Regelungen gibt es seit über 20 Jahren, wurden Pflegepersonalregelungen (PPR) genannt und werden teilweise sogar noch angewandt. Aber wie gesagt: Sie sind 20 Jahre alt. Und eigentlich ist es nicht sinnvoll, alte Systeme einfach zu übernehmen und mit ihnen zu arbeiten. Aber es kostet Zeit, neue System zu entwickeln oder auch bestehende Systeme den neuen Bedingungen anzupassen. Wenn es schnell gehen soll, wird in der Regel auf alte Systeme zurückgegriffen, trotz der Nachteile, die sie meist mit sich bringen.
Sie haben Systeme bewertet, die in anderen Ländern gelten. Welche zum Beispiel?
Wasem: Wir haben uns unter anderem das System angeschaut, das in der Schweiz angewandt wird. Dieses System hat den Vorteil, dass es sehr detailliert widerspiegelt, welcher Bedarf an Pflegekräften besteht. Aber auch dieses System hat keine Mechanismen, die sicherstellen, dass diese Pflegekräfte auch auf Station arbeiten.
Dennoch plädieren Sie dafür, dass auch in Deutschland Personalbemessungssysteme verbindlich eingeführt werden.
Wasem: Genau. Und das hat einen einfachen Grund: Es muss Schluss sein mit dem Kellertreppeneffekt. Wir haben inzwischen eine kritische Situation erreicht. Die nächste Stufe, die schon absehbar ist, wäre gefährliche Pflege. Weil die verbliebenen Fachkräfte es einfach nicht mehr schaffen, alle notwendigen Pflegeleistungen zu erbringen – und zwar bei allem Engagement nicht. Ganz abgesehen davon, dass die Rahmenbedingungen, die für die Pflege derzeit gang und gäbe sind, immer mehr dafür sorgen, dass der Pflegeberuf unattraktiv wird. Auch das können wir uns – weder mittelfristig und angesichts der demografischen Entwicklung schon gar nicht langfristig – nicht leisten.
Aber man darf auch die Investitionskosten nicht vergessen. Denn sie stehen in engem Zusammenhang mit der Personalknappheit in der Pflege. Es muss geklärt werden, wer für die Investitionen zuständig und es muss sichergestellt werden, dass diese Kosten auch übernommen werden. Es darf nicht länger sein, dass Geld, das eigentlich für die Pflege gebraucht wird, zum Beispiel für neue Technik oder Umbauten verwendet wird. Dass diese Investitionen wichtig sind, steht außer Frage. Auch im Zusammenhang mit der Pflege. Denn die Attraktivität des Pflegeberufes ist auch verbunden mit technischen Innovationen und Prozessverbesserungen.
Wie bewertet die Politik die Pflegesituation?
Wasem: Die Politik hat das Problem erkannt und deshalb auch schon Geld zur Verfügung gestellt, damit die Kliniken mehr in die Pflege investieren. Da dieses Programm, das 2008 aufgelegt wurde, aber zeitlich befristet war, hat es wenig bewirkt. Die Kliniken brauchen was Verlässliches. Sie hatten Angst, dass sie nach den drei Jahren der Förderung auf den Kosten sitzen bleiben, und haben deshalb das Programm nicht ausgeschöpft.
Auch im Koalitionsvertrag ist die Pflege aufgeführt. Allerdings wird dabei davon ausgegangen, dass die Kliniken mehr Geld für die Pflege bekommen, als sie ausgeben. Da das aber – zumindest im Durchschnitt der Krankenhäuser - nicht der Fall ist, läuft der Koalitionsvertrag insoweit ein wenig ins Leere. Aber ich denke, es ist allen klar, dass was passieren muss. Ich hoffe, dass die richtigen Schlüsse aus der Situation gezogen werden.
Sie plädieren auch dafür, eine gute Pflegeausstattung zu belohnen.
Wasem: Wir denken, das könnte ein Erfolg versprechender Weg sein. So könnten die 20 Kliniken mit der besten Personalausstattung einen Bonus bekommen. Das wäre ein positiver Anreiz, wieder mehr in die Pflege zu investieren. Wenn eine solche Regelung wirklich zu einer besseren Personalausstattung führen soll, dürfte ein solcher Bonus aber nicht zu niedrig angesetzt sein. Und: Ein solcher Anreiz wäre nicht so starr wie eine vorgeschriebene Personalbemessung und somit auch innovationsfreundlicher.
Was passiert, wenn die Politik kneift und trotz allem nichts passiert?
Wasem: Ein solcher Gedanke ist besorgniserregend. Denn wir steuern tatsächlich auf eine gefährliche Pflege zu. Das heißt: Die Pflege, die auf Station immer mehr zum Alltag wird, trägt nicht dazu bei, dass die Patientinnen und Patienten gesund werden. Im Gegenteil: Viel zu wenig Personal in der Pflege setzt die Patientinnen und Patienten der Gefahr aus, dass sie noch kränker werden, als sie schon sind. Das kann keiner wollen. Deshalb ist auch schlechtes oder mit Mängeln behaftetes Personalbemessungssystem besser als gar keines.
Fragen von Jana Bender/September 2014
Bereichsleiterin Gesundheitswesen/Gesundheitspolitik
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