Der ver.di-Bereich Innovation und Gute Arbeit hat eine Broschüre zur steigenden Arbeitsintensität herausgebracht. Von »Agilität« bis »Vereinbarkeit« werden darin die zentralen Aspekte des Themas kurz und verständlich erläutert. Drei wissenschaftliche Beiträge erklären die Hintergründe der Entwicklung. Gewerkschaftliche Praktiker*innen stellen die Situation in den verschiedenen Dienstleistungsbranchen dar und diskutieren, welche Handlungsmöglichkeiten ver.di und die betrieblichen Interessenvertretungen haben. Wir dokumentieren das Interview mit Sylvia Bühler, ver.di-Bundesvorstandsmitglied und Leiterin des Fachbereichs Gesundheit, Soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen. Die gesamte Broschüre kann hier bestellt oder heruntergeladen werden.
Dass Beschäftigte in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen überlastet sind, wird in den Medien und der Öffentlichkeit intensiv diskutiert. Wie kommt es, dass das Thema eine solch große Aufmerksamkeit erfährt?
Darauf möchte ich ganz unbescheiden antworten: Dazu haben wir ganz erheblich beigetragen. Die Beschäftigten haben gemeinsam mit ihrer Gewerkschaft ver.di immer und immer wieder mit starken Argumenten, spektakulären Aktionen und sogar durch harte Tarifauseinandersetzungen klar gemacht, dass sich etwas ändern muss. Überall fehlt es an Personal, um die Arbeit gut bewältigen zu können. Die Zahl der Patient*innen steigt, die Schwere der Fälle nimmt zu. Dennoch wurden über Jahre hinweg Stellen abgebaut – insbesondere in der Pflege und im Servicebereich. Im Bundestagswahlkampf ist das Thema richtig hochgekocht, als der Pflege-Azubi Alexander Jorde die Kanzlerin in einer ARD-Sendung mit den Realitäten in der Pflege konfrontierte. Das war ein wichtiger Auftritt. Auch danach hat das Thema die Schlagzeilen nicht mehr verlassen. Dafür haben die Beschäftigen mit etlichen Aktionen auf betrieblicher, tariflicher und politischer Ebene gesorgt. Ihre Ausdauer zahlt sich aus. Die große Resonanz auf unsere Aktivitäten hat natürlich auch damit zu tun, dass jede und jeder potenziell betroffen ist. Wir alle wollen gut versorgt werden, wenn wir ins Krankenhaus oder Pflegeheim müssen. Die Menschen wissen: Da liegt vieles im Argen. Jeder kann aus dem persönlichen Umfeld bittere Geschichten darüber erzählen.
Worin drückt sich die Überlastung konkret aus?
Wir haben viele Zahlen zusammengetragen, die die Folgen der Personalnot dokumentieren. Zum Beispiel hat unser »Nachtdienstcheck« im März 2015 ergeben, dass fast zwei Drittel der Pflegekräfte nachts allein auf ihrer Station arbeiten und im Durchschnitt für 26 Patientinnen und Patienten zuständig sind. Jede siebte Pflegekraft sagt, dass sie in der letzten Nachtschicht keine Pause nehmen konnte. Über Dreiviertel mussten erforderliche Leistungen weglassen, 60 Prozent erlebten in den vorangegangenen vier Wochen gefährliche Situationen, die bei mehr Personal vermeidbar gewesen wären. Solche Arbeitsbedingungen machen krank.
Kann man das auch statistisch nachweisen?
Sämtliche Berichte der Krankenkassen zeigen, dass Beschäftigte im Gesundheitswesen öfter und länger krank sind als der Durchschnitt aller Beschäftigten. Das gilt insbesondere für psychische Erkrankungen, von denen Altenpfleger*innen laut BKK-Gesundheitsatlas 2017 fast doppelt so stark betroffen sind wie andere. Auch Beschäftigte in der Krankenpflege, im Rettungsdienst und in der Geburtshilfe werden demnach häufiger aufgrund psychischer Probleme krankgeschrieben. Die Ursachen liegen auf der Hand. Einer Befragung der AOK zufolge sind zum Beispiel Pflegekräfte überdurchschnittlich häufig von Termin- und Leistungsdruck, zu großen Arbeitsmengen und hohem Arbeitstempo belastet. Hinzu kommt das ethische Dilemma, in das die Beschäftigten in Pflegeheimen und Kliniken getrieben werden.
Welches ethische Dilemma?
Pflegekräfte erleben jeden Tag, dass sie die Menschen nicht so versorgen können, wie sie es gelernt haben; dass sie ihnen nicht das geben können, was sie brauchen. Weil keine Zeit ist, müssen sie den Patient*innen und Pflegebedürftigen Leistungen vorenthalten, die diese eigentlich bräuchten. Das führt zu einer inneren Spannung, die in der Sozialpsychologie »kognitive Dissonanz« genannt wird und die krankmachen kann.
Die Bundesregierung hat auf die Situation reagiert und eine Reihe von Reformen auf den Weg gebracht. Wie beurteilst du sie?
Wir haben gezeigt, dass man auch einen Gesundheitsminister wie Jens Spahn (CDU), der sich ja selbst als liberal-konservativ bezeichnet, zum Handeln bewegen kann. Einige Beschlüsse bringen allerdings wenig oder legitimieren den Pflegenotstand noch – wie die völlig unzureichenden Pflegepersonal-Untergrenzen für bisher vier Bereiche im Krankenhaus. Andere sind ein wirklicher Fortschritt. So werden zusätzliche Pflegestellen sowie Lohnerhöhungen für Pflegekräfte in Krankenhäusern jetzt vollständig refinanziert. Das gibt den Kliniken Spielräume, die Pflege zu entlasten und finanziell aufzuwerten. Um den Beruf attraktiver zu machen, haben wir auf dieser Grundlage beispielsweise in der Länder-Tarifrunde für Pflegekräfte zusätzlich zur allgemeinen Lohnerhöhung einen Zuschlag von 120 Euro im Monat durchgesetzt, beim Klinikkonzern Helios sind es bis 300 Euro. Von besonderer Bedeutung ist die Entscheidung der Bundesregierung, die Pflegepersonalkosten aus den Fallpauschalen (Diagnosis Related Groups, DRG) herauszunehmen.
Warum ist die Herauslösung der Pflege aus den DRGs so wichtig?
Weil dieser Schritt an die Wurzel des Problems geht. Mit den Fallpauschalen wurden die Krankenhäuser in einen Preiswettbewerb getrieben, auf den sie vor allem mit der Senkung der Personalkosten reagiert haben. Wenn die Pflege diesem Mechanismus entzogen wird, ist das sehr positiv. Noch gravierender ist die Entwicklung in der Altenpflege und in der Rehabilitation. Mittlerweile haben Finanzinvestoren diese Bereiche als lukrative Anlagemöglichkeiten für sich entdeckt. Ihnen geht es vor allem darum, aus viel Geld schnell noch viel mehr Geld zu machen. Das muss gestoppt werden. So ein Gebaren hat in der Gesundheitsversorgung nichts zu suchen.
Wie versucht ver.di konkret, der Überlastung entgegenzuwirken?
Neben der politischen sind wir auch auf der betrieblichen und tarifpolitischen Schiene unterwegs. Immer wieder organisieren wir betriebliche Aktionstage, mit denen wir auf die unhaltbaren Zustände hinweisen. So zum Beispiel darauf, dass es wegen der Personalnot oft nicht möglich ist, die Hände vorschriftsgemäß zu desinfizieren. Oder die Soll-ist-voll-Aktion: Bei dieser rechnen die Teams aus, bis wann das Personal reichen würde, wenn die Schichten angemessen besetzt wären. Oft ist am 22. oder 23., manchmal auch schon am 20. eines Monats Schluss. Neben solchen eher symbolischen Aktionen setzen manche Teams ihrem Arbeitgeber ein Ultimatum: Entweder er erfüllt bestimmte Forderungen zur Entlastung oder die Kolleg*innen verweigern freiwillige Leistungen.
Wie funktioniert das genau?
Viele Arbeitgeber nutzen die Empathie und das Engagement ihrer Beschäftigten gnadenlos aus. Der ganze Betrieb funktioniert nur noch irgendwie, weil Beschäftigte über ihre Grenzen gehen und die eigenen Rechte ignorieren. Bei der Methode »Ultimatum« drohen Teams damit, diese freiwilligen Leistungen – zu denen sie laut Arbeitsvertrag nicht verpflichtet sind – ab einem bestimmten Zeitpunkt kollektiv einzustellen. Zum Beispiel versprechen sich die Pflegekräfte untereinander, ab Tag X nicht mehr außerhalb des Dienstplans einzuspringen und keine Überstunden mehr zu machen. Damit können sie einen enormen Druck erzeugen. Wo Teams diese Methode offensiv einsetzen, erreichen sie nahezu immer Verbesserungen. Sie gewinnen Selbstbewusstsein und verschaffen sich Respekt.
Welche Möglichkeiten haben die betrieblichen Interessenvertretungen, ihre Mitbestimmungsrechte im Sinne von Entlastung zu nutzen?
Eine ganze Reihe. Wir unterstützen die Betriebs- und Personalräte sowie Mitarbeitervertretungen dabei, zum Beispiel Gefährdungsbeurteilungen zur psychischen Belastung einzufordern und die Dienstpläne wirksam zu kontrollieren. Überzeugend die tolle Arbeit des Betriebsrats im Helios-Klinikum Salzgitter. Immer wieder hat er auf seinen Mitbestimmungsrechten auch bei Dienstplanänderungen bestanden. Die Gerichte haben klargestellt, dass der Ausfall von Beschäftigten auch im Krankenhaus keinen Notfall darstellt, bei dem der Arbeitgeber die Rechte des Betriebsrats ignorieren kann. Auf dieser Grundlage wurde Helios zur Zahlung von Ordnungsgeldern verurteilt. Damit trifft der Betriebsrat den kommerziellen Klinikkonzern genau dort, wo es ihm wehtut: beim Geld. Für sein Engagement ist er 2018 mit dem Deutschen Betriebsrätepreis in Gold ausgezeichnet worden.
Und die von dir benannte tarifpolitische Schiene? Welche Rolle spielt sie beim Thema Entlastung?
Wir lassen die Arbeitgeber nicht aus der Verantwortung, die Gesundheit ihrer Beschäftigten zu schützen. Dafür nutzen wir auch das wirksamste Mittel, über das wir als Gewerkschaft verfügen: die Tarifpolitik und wenn nötig auch den Arbeitskampf. Den Anfang machten seinerzeit die Kolleg*innen der Berliner Charité, die nicht nur den ersten Entlastungs-Tarifvertrag durchgesetzt, sondern auch Rechtsgeschichte geschrieben haben. Als die Klinikleitung den Streik 2015 verbieten lassen wollte, schrieb der Richter ihr ins Stammbuch: »Die unternehmerische Freiheit des Arbeitgebers endet dort, wo der Gesundheitsschutz der Beschäftigten anfängt.« Mittlerweile haben wir in 14 Kliniken Vereinbarungen für mehr Personal und Entlastung erreicht – teilweise gegen harte Widerstände. So mussten die Beschäftigten der Unikliniken Essen und Düsseldorf im vergangenen Jahr 34 bzw. 44 Tage streiken, um den Widerstand der Arbeitgeber zu brechen. Die Qualität der Vereinbarungen wird von Mal zu Mal besser, vor allem, was die Konsequenzen betrifft, falls Regelungen nicht eingehalten werden. Derzeit bereiten sich die Kolleginnen und Kollegen an den Unikliniken in Jena, Mainz und Schleswig-Holstein darauf vor, einen Tarifvertrag Entlastung anzugehen. Wir bleiben also dran.
Das zentrale Argument der Arbeitgeber gegen verbindliche Vorgaben – seien es gesetzliche oder tarifvertragliche – ist stets der Fachkräftemangel. Der Arbeitsmarkt sei »leergefegt«, das Personal schlicht nicht vorhanden, heißt es. Was hältst du dem entgegen?
In einigen Bereichen gibt es tatsächlich einen Mangel an Arbeitskräften, wenn auch längst nicht flächendeckend. Doch das Problem ist hausgemacht. Schlechte Arbeitsbedingungen treiben Pflegekräfte in Teilzeit oder ganz aus dem Beruf. Die »Pflege-Comeback-Studie« sieht ein Potenzial von 120.000 bis 200.000 zusätzlichen examinierten Pflegekräften, die bei besseren Rahmenbedingungen zurückgewonnen werden könnten. Wäre der Teilzeitanteil in der Altenpflege so hoch wie im Gesamtdurchschnitt aller Beschäftigten, gäbe es in der ambulanten und stationären Pflege 125.000 Vollzeitbeschäftigte mehr. Und allein in der Ausbildung gehen jedes Jahr über 13.000 Pflegefachkräfte verloren, weil sie die Ausbildung abbrechen oder die Prüfung nicht schaffen. Mit mehr Zeit für Praxisanleitung, guten Bedingungen in der Schule und individueller Betreuung könnte vielen von ihnen geholfen werden. All das zeigt: Arbeitgeber und Politik haben es in der Hand. Wenn sie für gute Bedingungen sorgen, können genug Fachkräfte für diesen tollen Beruf gewonnen und darin gehalten werden.
ver.di Bundesverwaltung