Es ist ein Weckruf mit Masse: Interessenvertretungen aus 94 Klinikunternehmen, die insgesamt mehr als 356.000 Beschäftigte repräsentieren, haben sich in einem Offenen Brief an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) und die Abgeordneten des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestags gewandt. Ihr Appell: Die Bundesregierung müsse ihr Versprechen aus dem Koalitionsvertrag halten und die bedarfsgerechte Personalbemessung in der Krankenhauspflege, die PPR 2.0, verbindlich einführen. Dafür müsse der Bundestag den von Lauterbach vorgelegten Gesetzentwurf deutlich nachbessern.
»Es braucht Personalvorgaben, die wirklich bedarfsgerecht sind – nicht nur als Schlagwort, sondern tatsächlich in der Praxis«, fordert die Vorsitzende der Mitarbeitervertretung am Agaplesion Markus Krankenhaus in Frankfurt am Main, Kirsten Brahms. Darauf wollten sie und die vielen anderen Interessenvertretungen aufmerksam machen, die den Offenen Brief unterzeichnet haben. Besonders empört sind sie darüber, dass dem Bundesfinanzministerium bei der Erstellung der Rechtsverordnung, die den Personalbedarf ermitteln und Vorgaben machen soll, ein Veto-Recht eingeräumt werden soll. »Diesen Dammbruch, der die Versorgungsqualität dem Einspruch des Finanzministers überlässt, darf es nicht geben«, heißt es im Offenen Brief.
Es sei klar, dass die Krankenhäuser das Geld nicht zum Fenster rauswerfen könnten, meint Brahms. »Klar ist aber auch, dass der Bedarf das entscheidende Kriterium sein muss. Eine bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung ist eine staatliche Aufgabe, die auch was kosten kann.« Nicht umsonst seien die Pflegepersonalkosten aus den Fallpauschalen (Diagnosis Related Groups, DRG) ausgegliedert worden und würden nun von den Krankenkassen vollständig refinanziert. »Wenn jetzt der Finanzminister bei der Personalausstattung sagen kann, er möchte statt genug Personal lieber seine Schuldenbremse einhalten, dann sind wir wieder da, wo wir vorher waren.«
Alexander Eichholtz vom Klinik-Personalrat der Berliner Charité hält den Vorbehalt eines »Einvernehmens« mit dem Bundesfinanzminister ebenfalls für »nicht tragbar«. Insgesamt geht ihm der Gesetzentwurf nicht weit genug. »Wir brauchen feste und verbindliche Regeln zur Personalbesetzung. Und das nicht nur für die Pflege am Bett, sondern für alle Berufsgruppen«, so der Gesundheits- und Krankenpfleger. Deshalb sei es gut, dass ver.di an der Charité und anderen Kliniken per Entlastungstarifvertrag deutlich weitergehende Regelungen vereinbart hat, die allen Berufsgruppen zugutekommen. »Die PPR 2.0 muss ausnahmslos und bundesweit für alle Krankenhäuser gelten. Klar ist, dass für Beschäftigte günstigere tarifvertragliche Regelungen angewendet werden müssen«, sagt Eichholtz.
Bislang ist im Gesetzentwurf hingegen vorgesehen, dass Krankenhäuser mit einem Tarifvertrag »oder einer sonstigen Vereinbarung«, die Regelungen zur Personalbesetzung beinhalten, die gesetzlichen Vorgaben auch unterlaufen könnten. Für diese Ausnahmeregelung gebe es keinen Grund, heißt es im Offenen Brief der Interessenvertretungen. »Dies insbesondere, da wir Arbeitgeber kennen, die mit „Pseudogewerkschaften“ Tarifabschlüsse machen, die zulasten der Kolleg*innen gehen.«
Der Betriebsratsvorsitzende bei Vitos Kurhessen, Kevin Giese, betont, Personalvorgaben müssten bedarfsgerecht und verbindlich sein. Er verweist auf die Erfahrungen mit der Richtlinie »Personalausstattung Psychiatrie und Psychosomatik« (PPP-RL). Die darin enthaltenen Vorgaben für psychiatrische Einrichtungen werden laut einer aktuellen ver.di-Erhebung flächendeckend unterlaufen. Hintergrund ist, dass die eigentlich fälligen Sanktionen bei Unterschreitung der Mindestbesetzung vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) immer wieder verschoben werden. Das dürfe in somatischen Kliniken nicht genauso laufen, betont Giese. »Wir brauchen Verbindlichkeit. Und wir brauchen mehr Personal. Sonst geht das nur auf Kosten der Beschäftigten.« Da die Personaldecke auf den Stationen viel zu dünn sei, müssten die Kolleg*innen ständig einspringen und »massive Einschränkungen bei Dienstplan- und Urlaubsgestaltung« hinnehmen.
»Stinksauer« zeigt sich der Betriebsrat darüber, dass die versprochene Entlastung immer noch nicht bei den Klinikbeschäftigten angekommen ist. »Lauterbach müsste die Arbeitgeber viel schärfer verpflichten, das notwendige Personal vorzuhalten«, meint er. Betriebs- und Personalräte sowie Mitarbeitervertretungen bräuchten bei dem Thema zudem mehr Mitspracherechte. Sein Fazit: »Von der Politik muss deutlich mehr kommen.«
veröffentlicht/aktualisiert am 12. Oktober 2022