Mindestbesetzungsregeln für das Pflegepersonal in den Krankenhäusern sind nicht nur möglich, sondern werden in verschiedenen Ländern längst umgesetzt. Im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung haben Professor Michael Simon von der Hochschule Hannover und sein Team tarifliche und gesetzliche Regelungen zur Personalbemessung auf den Stationen analysiert. Das Fazit der Analyse: Mindestbesetzungsregeln sind der Schlüssel für eine qualitativ hohe Pflege in den Krankenhäusern.
Welche Rolle spielt die Pflege hierzulande in den Krankenhäusern? Wird sie eher als Kostenfaktor betrachtet oder als wichtiger Bestandteil der Behandlung?
Simon: Zwischen den Krankenhäusern bestehen durchaus große Unterschiede. Es gibt Krankenhausleitungen, die anerkennen, dass Pflege ein wesentlicher Bestandteil der Behandlung ist und entsprechend handeln. Andere sehen die Pflege vor allem als Kostenfaktor und suchen dort nach Einsparmöglichkeiten.
Noch Anfang der 90er Jahre kämpften die Pflegekräfte mit Kampagnen um mehr Stellen.
Simon: In der Tat. Mit Aktionen und Demonstrationen protestierten Anfang der 90er Jahre Tausende Pflegekräfte gegen Unterbesetzung und Arbeitsüberlastung. Es gab auch eine breite öffentliche Diskussion über einen Pflegenotstand in Krankenhäusern. Eine Auswertung bundesweiter Daten zum Personalbedarf ergab für 1993 einen Personalmehrbedarf von mehr als 20 Prozent allein im Tagdienst der Normalstationen. Das entsprach etwa 50.000 Vollzeitstellen.
Auf Grundlage einer ab 1993 geltenden gesetzlichen Vorschrift, der Pflege-Personalregelung (PPR), wurden bis 1995 jedoch nur etwa 17.000 Stellen geschaffen. 1996 wurde die PPR ausgesetzt und 1997 vollständig aufgehoben. Danach setzte ein Stellenabbau ein, der bis 2007 zum Abbau von bundesweit etwa 52.000 Stellen führte. Seit 2008 gab es zwar wieder einen Stellenzuwachs, aber nur im Umfang von ca. 20.000 Stellen.
Bei diesen Zahlen ist zudem zu bedenken, dass im Vergleich zu Anfang der 1990er Jahre heute mehr Patienten in Krankenhäusern behandelt werden, der Anteil der älteren und in der Regel pflegeaufwändigeren Patienten erheblich höher ist und deutlich mehr diagnostische Maßnahmen und Operationen durchgeführt werden.
Verschiedene Modellrechnungen kommen zu dem Schluss, dass heute zwischen 70.000 und mehr als 100.000 Pflegestellen fehlen. Der jüngst veröffentlichte Nachdienstcheck von ver.di ergab, dass – wenn man die in Australien vorgebebenen Mindestbesetzungen zugrunde legt – in deutschen Krankenhäusern allein im Nachtdienst 19.000 Stellen fehlen.
Wenn so viele Stellen fehlen, ist dann eine gute Behandlung noch möglich?
Simon: Dazu gibt es unterschiedliche Meinungen. Meine Auffassung ist: Je weniger Pflegepersonal es gibt, desto schwerer ist es, eine ausreichende Pflege sicherzustellen. Und desto größer ist das Risiko, dass Patienten während des Krankenhausaufenthaltes eine Komplikation erleiden. Eine wichtige Aufgabe der Pflege ist beispielsweise die Patientenbeobachtung, insbesondere um Komplikationen möglichst früh zu erkennen und Gegenmaßnahmen einleiten zu können. Bleibt nicht die Zeit, um regelmäßig zu gefährdeten Patienten zu gehen und nach ihnen zu schauen, können Komplikationen nicht frühzeitig erkannt werden. Schlimmstenfalls erleiden Patienten durch zu spät erkannte Komplikationen dauerhafte Gesundheitsschäden oder versterben sogar. Versterben nach zu spät erkannten Komplikationen ist ein in der internationalen Forschung häufig eingesetzter Indikator, um die Folgen von Unterbesetzung in der Pflege zu messen.
Sie haben sich Regelungen angeschaut, die eine Mindestbesetzung auf den Stationen vorschreiben.
Simon: Ja. Wir haben Regelungen in Australien, in mehreren Bundesstaaten der USA, in asiatischen Staaten und in Europa gefunden. Es gibt gesetzliche Regelungen und auch tarifvertragliche Regelungen. Im Mittelpunkt dieser Regelungen steht die verbindlich einzuhaltende Vorgabe, dass eine Pflegekraft pro Schicht nicht mehr als eine bestimmte Zahl von Patienten zu versorgen haben darf. Ein in den USA und Australien häufiger anzutreffender Wert ist für den Tagdienst auf Normalstationen die Besetzung von einer Pflegkraft je fünf Patienten. Für Deutschland wurde in einer internationalen Studie vor ein paar Jahren ein Wert von 1:13 ermittelt.
In den USA gibt es mehrere Bundesstaaten mit gesetzlichen Vorgaben und in Australien zwei Bundesstaaten, in denen gesetzliche Vorgaben gelten und vier Bundesstaaten, in denen es tarifvertragliche Vereinbarungen zur Personalbesetzung gibt. Sowohl in den USA als auch in Australien gehören zum Regulierungssystem auch Kontrollmaßnahmen, um sicherzustellen, dass die Vorgaben eingehalten werden. Weit verbreitet ist auch die Vorgabe, dass jedes Krankenhaus ein Gremium einzurichten hat, das mindestens zur Hälfte mit Pflegekräften zu besetzen ist, die in der direkten Pflege tätig sind. Diese Kommissionen entscheiden über wichtige Fragen der Stellenbesetzung und die Krankenhausleitung ist verpflichtet, die Beschlüsse dieser Kommissionen umzusetzen.
Welches der Modelle, die sie untersucht haben, hat Ihnen besonders zugesagt?
Simon: Das Modell des australischen Bundesstaates Victoria hat mich am stärksten beeindruckt. Es sieht differenzierte Vorgaben für die Früh-, Spät- und Nachtschicht vor und verleiht dem Pflegepersonal vor Ort erheblichen Einfluss auf die Personalbesetzung und Personaleinsatzplanung. Es basiert auf zuvor existierenden tarifvertraglichen Vereinbarungen, die 2015 in gesetzliche Vorgaben überführt wurden.
Sie würden gesetzliche Regelungen stets tariflichen vorziehen?
Simon: Der Staat hat mehr Macht als es Gewerkschaften je haben können. Er kann Vorschriften erlassen, die von allen Krankenhäusern einzuhalten sind, unabhängig davon ob sie einem Tarifverbund angehören und welcher das ist. Allerdings können tarifvertragliche Regulierungen einen Einstieg bieten und staatliche vorbereiten, wenn die Gewerkschaften über ausreichend Durchsetzungsmacht verfügen. In Australien fordern auch die Gewerkschaften in den Bundesstaaten, die tarifvertragliche Vereinbarungen haben, die Einführung staatlicher Vorschriften.
Würden in Deutschland solche Mindeststandards gelten, müssten mehr Stellen geschaffen werden.
Simon: Unterm Strich ja – und zwar deutlich mehr.
Könnte man die Systeme ohne weiteres übertragen?
Simon: Die wichtigsten Elemente der in den USA und in Australien bestehenden Regulierungssysteme sind grundsätzlich durchaus übertragbar. Dies zeigt auch die Tatsache, dass es in Deutschland bereits erste Schritte in diese Richtung gibt. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat erste Nurse-to-Patient Ratios für Intensivstationen der Frühgeborenen-Versorgung vorgegeben und einige Bundesländer haben begonnen oder angekündigt, Vorgaben zur Personalbesetzung in ihre Krankenhausplanung aufzunehmen.
Mehr Personal würde das Gesundheitssystem auch teurer machen.
Simon: Sicherlich. Allerdings sollte auch bedacht werden, dass die Vermeidung von Komplikationen und Verbesserung der Patientenversorgung auch dazu beiträgt, Kosten zu senken. Zudem verursacht die chronische Überlastung von Pflegekräften auch zusätzliche Kosten, beispielsweise durch höheren Krankenstand, langwierige Arbeitsunfähigkeit und Frühverrentungen. Sie könnten durch eine bessere Personalausstattung reduziert werden.
Was würden Sie einem Politiker in Sachen Pflegesituation raten?
Simon: Ich plädiere für die Einführung staatlicher Vorgaben zur Personalbesetzung nach dem Vorbild amerikanischer und australischer Bundesstaaten. Die dortigen Regulierungen bieten eine Fülle von Anregungen auch für Deutschland. Eine staatliche Regulierung ist technisch machbar. Die Frage ist, ob sie auch politisch gewollt ist und dafür die notwendigen Mehrheiten zu organisieren sind. Das Kostenargument sollte dabei nicht im Vordergrund stehen, denn es geht schließlich um die Gesundheit von Krankenhauspatienten, und auch die der Pflegekräfte. Verweigert sich die Politik einem staatlichen Eingreifen, so ist zu befürchten, dass eine bereits bestehende Abwärtsspirale weiter an Fahrt aufnimmt: Die schlechten Arbeitsbedingungen für Pflegepersonal führen dazu, dass zunehmend mehr Fachkräfte aus dem Beruf aussteigen, beispielsweise durch Reduzierung ihrer Arbeitszeit oder Frühverrentungen. Da das Ansehen des Berufes durch die schlechten Arbeitsbedingungen zunehmend leidet, wird es immer schwerer, ausreichend Nachwuchs zu gewinnen. Das verschlechtert die Arbeitsbedingungen weiter. Es besteht aus meiner Sicht dringender politischer Handlungsbedarf.
Fragen von Jana Bender.
Bereichsleiterin Gesundheitswesen/Gesundheitspolitik
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