Anhörung im Bundestag zum Pflegepersonal in Krankenhäusern: ver.di fordert bedarfsgerechte Personalvorgaben
Pressemitteilung Berlin, 24.11.2020. Anlässlich der am morgigen Mittwoch (25. November 2020) stattfindenden Anhörung des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages zur Pflegepersonalplanung in Krankenhäusern bekräftigt die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) ihre Forderung nach einer verbindlichen bedarfsgerechten Personalausstattung. "Die Pflegekräfte sind durch die Pandemie aktuell extrem gefordert. Sie bringen vollen Einsatz, aber sie erwarten jetzt auch die politische Weichenstellung, dass sich ihre Situation perspektivisch grundlegend bessert", sagte ver.di-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler.
ver.di habe gemeinsam mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft und dem Deutschen Pflegerat mit der PPR 2.0 ein Instrument zur Personalbemessung für die Pflege auf der Grundlage der Pflege-Personalregelung (PPR) entwickelt, so Bühler weiter. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sei aufgefordert, dieses Instrument zügig auf den Weg zu bringen.
Mit der Ausgliederung der Pflegepersonalkosten aus dem bestehenden System der Finanzierung nach Fallpauschalen (DRG) sei die Bundesregierung einen wichtigen Schritt gegangen, um das Pflegepersonal vor den negativen Anreizen der DRGs zu schützen, so Bühler weiter. Doch es fehle ein Ordnungsrahmen, der eine bedarfsgerechte Personalausstattung vorgibt und absichert. "Die bisherigen Maßnahmen bringen nicht die dringend erforderliche Entlastung im Klinikalltag. Deshalb braucht es dringend wirksame Vorgaben", so Bühler. "Das wirksamste Mittel gegen den Fachkräftemangel ist eine Personalausstattung, die eine gute Pflege ermöglicht und die Beschäftigten vor Überarbeitung schützt."
Stellungnahme der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) zur öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Gesundheit des Deutschen Bundestages am Mittwoch, 25. November 2020 zum Antrag der Fraktion DIE LINKE. Jetzt bedarfsgerechte Personalbemessung in Krankenhäusern einführen. BT-Drucksache 19/17544. Berlin, 19. November 2020
Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di begrüßt die durch die Antragsteller initiierte Debatte zur Personalbemessung in Krankenhäusern im Deutschen Bundestag. Sie ist dringend erforderlich.
Der Personalnotstand in den Krankenhäusern gefährdet die Sicherheit der Patient*innen und die Gesundheit der Beschäftigten. Die enorme Arbeitsverdichtung der vergangenen Jahre treibt viele aus ihrem Beruf oder in die Teilzeit. Das Potential wird für eine gute Versorgung gebraucht. Um verlässliche Dienstpläne, Pausen und die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben zu ermöglichen, muss mehr Personal in die Kliniken. Über einen Belastungscheck hat ver.di den Bedarf von 80.000 zusätzlichen Pflegekräften erhoben, die für eine gute Versorgung notwendig sind. Das System bricht nur deshalb nicht zusammen, weil die Beschäftigten regelmäßig über ihre Grenzen gehen - auf Kosten ihrer Gesundheit. Die enorme Arbeitsverdichtung bestand bereits vor der Corona-Pandemie. Jetzt in der Krise zeigt sich umso mehr, dass nicht die technische Infrastruktur entscheidend für die Pandemiebewältigung ist. Vielmehr ist das Pflegepersonal das Nadelöhr, auf das es jetzt ankommt.
Pflegende wollen gute Arbeit leisten und für die Sicherheit der Patienten sorgen und wissen doch, dass sie das unter den gegebenen Umständen immer weniger einlösen können. Der Anteil derjenigen Pflegekräfte in Krankenhäusern, die sich in der Arbeit sehr häufig oder oft gehetzt fühlen, liegt mit 80 Prozent extrem hoch – so ergab es die repräsentative DGB-Indexbefragung Gute Arbeit vor zwei Jahren (DGB-Index „Gute Arbeit“ 2018). Die Hälfte der Befragten gibt an, dass sie sehr häufig oder oft Abstriche bei der Qualität ihrer Arbeit machen müssen, um das Arbeitspensum zu schaffen. Gerade im Krankenhausbereich, wo es gilt, Menschen während ihrer Krankheit zu begleiten und unter Einhaltung einer Vielzahl fachlicher und rechtlicher Vorschriften zu versorgen, ist dieser Anteil mehr als alarmierend. Drei Viertel der Befragten können sich unter diesen Umständen nicht vorstellen, die Tätigkeit bis zum gesetzlichen Rentenalter ohne Einschränkung auszuüben. Wenn sich die Bedingungen nicht maßgeblich und mit verbindlicher Perspektive ändern, bleibt Fachkräftepotenzial ungenutzt. So ergab die »Pflege-Comeback-Studie«: Fast die Hälfte der ausgebildeten Pflegekräfte, die ihren Beruf verlassen haben, würde zurückkehren – wenn die Bedingungen stimmen.
Die Fallpauschalen waren Trigger des Personalabbaus in den vergangenen 15 Jahren, so eine aktuelle Studie der Hans-Böckler-Stiftung. Mit der Ausgliederung der Pflegepersonalkosten aus dem bestehenden Fallpauschalensystem (DRG) hat die Bundesregierung einen wichtigen Schritt getan, um das Pflegepersonal im Krankenhaus vor den negativen Anreizen des Finanzierungssystems zu schützen. Doch es fehlt ein Ordnungsrahmen, der eine bedarfsgerechte Personalausstattung vorgibt und absichert. Dem sozialrechtlich verankerten Anspruch auf bedarfsgerechte Versorgung wird das Instrument der Pflegepersonaluntergrenzen nicht gerecht. Die Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung (PpUGV) enthält kein Verfahren zur Ermittlung des Pflege- und Personalbedarfs. Vielmehr wird mit den Pflegepersonaluntergrenzen nur eine Minimalbesetzung verlangt, die lediglich ausreichen soll, eine patientengefährdende Pflege zu verhindern. Dementsprechend werden die Untergrenzen auf einem Niveau festgelegt, das sich an der Grenze zu den 25 Prozent am schlechtesten besetzten Häusern befindet. In der Praxis werden Untergrenzen nicht als absolute „rote Linien“ verstanden, sondern häufig zur Normalität gemacht. Auch die künftige Veröffentlichung eines Pflegepersonalquotienten erfüllt den Anspruch auf eine bedarfsgerechte Versorgung nicht. Er soll das Verhältnis der Pflegevollzeitkräfteanzahl in der unmittelbaren Patientenversorgung auf bettenführenden Stationen zum Pflegeaufwand eines Krankenhauses beschreiben. Jedoch wird der tatsächliche Pflegeaufwand über den zu Grunde liegenden Pflegelastkatalog gar nicht abgebildet. Dieser gibt weder den Pflegebedarf, noch den für die Patient*innen einer DRG tatsächlich durchschnittlich erbrachten Pflegeaufwand wieder. Die Bewertungsrelationen des Pflegelast-Katalogs basieren letztlich auf Ist-Kosten, die im Rahmen der jährlichen Kalkulationsrunden in den DRG-Kalkulationskrankenhäusern ermittelt werden. Damit kann der Pflegepersonalquotient keine Aussage zu angefallenem Pflegeaufwand und Personalbesetzung geben.
Im Ergebnis bringen die bisher durch den Gesetzgeber auf den Weg gebrachten Maßnahmen nicht die dringend erforderliche Entlastung in den Alltag der Pflegenden im Krankenhaus.
ver.di hat gemeinsam mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) und dem Deutschen Pflegerat (DPR) mit der PPR 2.0 ein Instrument zur Personalbemessung für die Pflege auf der Grundlage der Pflege-Personalregelung (PPR) wissenschaftlich fundiert entwickelt und grundlegend modernisiert. In einem Pretest ist die Machbarkeit und Handhabbarkeit mit positivem Ergebnis geprüft worden. In kurzer Frist wurde damit die im Juni 2019 getroffene Vereinbarung der Konzertierten Aktion Pflege (KAP) umgesetzt und das Ergebnis Anfang des Jahres 2020 dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) fristgerecht präsentiert.
Das Instrument schätzt unterschiedliche Patientengruppen und Leistungsfelder hinsichtlich des Pflegepersonalbedarfs ein und kann in die digitale Datenverarbeitung des Krankenhauses eingebunden werden. Die Bedienung ist einfach, selbsterklärend und bürokratiearm. Die PPR 2.0 orientiert sich an den anerkannten Standards einer qualitativ hochwertigen Patient*innenversorgung und gewährleistet eine hohe Patient*innensicherheit. In vielen Krankenhäusern ist die Systematik gut bekannt, weil der Vorläufer, die PPR, häufig als Kalkulationsinstrument eingesetzt wird. Darüber hinaus haben Beschäftigte mit ihrer Gewerkschaft inzwischen in einer Reihe von Krankenhäusern einen Tarifvertrag durchsetzen können, der als entlastende Maßnahme u. a. die „alte“ PPR als Personalbemessungsinstrument vereinbart, weil die Anwendung in der Praxis überzeugt hat. Die PPR 2.0 geht über die vorhandenen Pflegepersonaluntergrenzen hinaus und ist anders als diese nicht auf ausgewählte, vermeintlich »pflegesensitive« Bereiche beschränkt. Das Instrument ist zusammen mit INPULS, einer Personalbemessung für die Intensivpflege, als Interimslösung kurzfristig für die unmittelbare Patient*innenversorgung auf allen bettenführenden Stationen einsetzbar.
ver.di hat mit der DKG und dem DPR Eckpunkte zur Umsetzung der PPR 2.0 vereinbart, weil es keinesfalls ausreicht, mit der PPR 2.0 die Anzahl des benötigten Pflegepersonals für die jährlichen Budgetverhandlungen zu ermitteln und das Interimsinstrument den Bedarf für Nachtdienste noch nicht erfasst. Die Eckpunkte zur Umsetzung setzen den Rahmen für die Verteilung der Pflegestellen im Krankenhaus (Stellenplan) und legen die Grundlage für die Dienstplangestaltung unter Beachtung der bedarfsgerechten Versorgung der Patientinnen und Patienten sowie des Arbeits- und Gesundheitsschutzes für Beschäftigte. Ausfallkonzepte müssen dafür sorgen, dass die Regelbesetzung eingehalten und eine Überlastung verhindert wird.
Für die weitere Ausgestaltung bis zur Inkraftsetzung muss jetzt zügig eine Regierungskommission gebildet werden, in der neben ver.di, dem DPR und der DKG auch der Spitzenverband Bund der Krankenkassen, die medizinischen Fachgesellschaften und weitere Expert*innen vertreten sind. Dabei müssen die Umsetzungsschritte klar geregelt und verbindlich eingehalten werden. Notwendig ist eine Nachweispflicht, die für Transparenz sorgt. Wenn verbindliche Vorgaben der PPR 2.0 nicht eingehalten werden, muss das Konsequenzen haben. Das Ziel muss die verpflichtende und bundesweit einheitliche Einführung der PPR 2.0 als Interimslösung noch in dieser Legislaturperiode sein.
ver.di unterstützt den Antrag, die gesetzlichen Grundlagen für die Einführung der PPR 2.0 zum 01.01.2021 per Verordnungsermächtigung des Bundesministeriums für Gesundheit jetzt auf den Weg zu geben.
Parallel zur Implementierung der PPR 2.0 ist kurzfristig – wie im Rahmen der Konzertierten Aktion Pflege (KAP) vereinbart - durch den Gesetzgeber der Auftrag zur Entwicklung und Erprobung eines wissenschaftlich fundierten Instruments zur Personalbedarfsermittlung zu erteilen. Nach den Erfahrungen aus der Langzeitpflege ist hierfür mindestens ein Zeitraum von drei Jahren anzusetzen. Im Zuge des Pflegestärkungsgesetz II wurde 2016 für den Bereich der stationären Pflege Prof. Rothgang, Uni Bremen, entsprechend beauftragt. Das Projekt startete 2017, im September 2020 wurde der Endbericht veröffentlicht. Deshalb drängt ver.di darauf, keine weitere wertvolle Zeit verstreichen zu lassen und auch den zweiten Teil aus der KAP-Vereinbarung endlich durch den Gesetzgeber auf den Weg zu bringen.
Das Interimsinstrument PPR 2.0 und der Auftrag zur Entwicklung und Erprobung des weitergehenden Pflegepersonalbemessungsinstruments für die Krankenhauspflege ist als Paketlösung der wesentliche Baustein, um die vorhandenen Pflegekräfte im Krankenhaus zu halten und zusätzliche, dringend notwendige Beschäftigte zu gewinnen. Die beste Werbung für Pflegeberufe ist es, wenn Auszubildende und Beschäftigte sie guten Gewissens weiterempfehlen können. Dazu müssen jetzt die richtigen Schritte gegangen werden für eine mittelfristige, belastbare Perspektive und mit verbindlichem Zeitrahmen.
Bereichsleiterin Gesundheitswesen/Gesundheitspolitik
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