Der Countdown läuft: Am 1. Januar 2017 tritt die Pflegereform in Kraft. Wird die Situation in der Altenpflege dann besser?
Ja und nein. Die Pflegestärkungsgesetze II und III, die zum Jahreswechsel greifen, bringen einige Fortschritte. Um die Bedingungen aber nicht nur auf dem Papier, sondern tatsächlich zu verbessern, braucht es vor allem eins: mehr qualifiziertes Personal am Bett.
Der Reihe nach: Was verbessert sich?
Die Regierung macht endlich ernst damit, einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff umzusetzen. Das fordern ver.di und unsere Partnerorganisationen im »Bündnis für gute Pflege« schon seit vielen Jahren. Dass es nun geschieht, ist ein großer Erfolg unserer beharrlichen Aktivitäten.
»Neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff« klingt sperrig. Was bedeutet das?
Ob und wie stark jemand als pflegebedürftig eingestuft wird, hängt nicht mehr allein von körperlichen Gebrechen ab. Ab jetzt steht die Frage im Mittelpunkt, inwieweit der oder die Betroffene in der Lage ist, den Alltag selbstständig zu meistern. Dabei werden psychische und kognitive Einschränkungen stärker berücksichtigt. Das betrifft vor allem demenzielle Erkrankungen.
Welche praktischen Auswirkungen hat das?
Mehr Menschen werden als pflegebedürftig anerkannt, zugleich haben sie in den meisten Fällen Anspruch auf mehr Leistungen. Das ist absolut begrüßenswert.
Wo liegt dann das Problem?
Wenn mehr Pflegebedürftige mehr Leistungen erhalten, muss auch mehr qualifiziertes Personal zur Verfügung stehen. Sonst ist das eine Luftnummer. Schon jetzt sind die Kolleginnen und Kollegen in den Einrichtungen überlastet. Überstunden, Arbeit während der gesetzlich vorgeschriebenen Pausen, Einspringen aus dem Frei gehören zum Alltag. Die Zahl der Gefährdungsanzeigen und der Krankmeldungen nimmt zu. Falls irgendjemand glaubt, die bestehenden Belegschaften könnten die zusätzlichen Leistungen einfach mit übernehmen, ist das weitab von der Realität.
In den neuen Gesetzen ist keinerlei Regelung für mehr Personal enthalten?
ver.di hat erreicht, dass ein wissenschaftlich fundiertes Verfahren zur einheitlichen Bemessung des Personalbedarfs entwickelt werden soll. Allerdings bis frühestens 2020. Das zusätzliche Personal wird aber schon am 1. Januar 2017 gebraucht. Deshalb müssen die Länder ab sofort verpflichtet werden, die bestehenden Personalrichtwerte an den gestiegenen Bedarf anzupassen. Konkret fordern wir als Sofortmaßnahme einen Schlüssel von einer Pflegekraft zu zwei Bewohnerinnen und Bewohner. Nachts darf keine Pflegekraft mehr allein arbeiten müssen.
Wir können auch nicht bis zum Ende des Jahrzehnts auf bundesweit einheitliche Personalvorgaben warten. Das muss viel schneller gehen. Jetzt besteht die Chance, den Flickenteppich unterschiedlicher Richtwerte in den Ländern zu beseitigen. Die Versorgungsqualität darf nicht länger vom Wohnort abhängen. Das verlangt schon das Grundgesetz, das einheitliche Lebensverhältnisse vorschreibt.
Wie hängen Versorgungsqualität und Personalstandard zusammen?
Der Zusammenhang ist vielfach belegt: Mehr Pflegepersonal verbessert die Versorgung – wenn es sich um qualifiziertes Personal handelt (siehe Gutachten); Personalmangel führt zu schlechteren Ergebnissen und gefährdet letztlich Menschenleben. Zugleich werden die Pflegenden selbst krank. Damit muss Schluss sein.
Mehr Leistungen und mehr Personal kosten mehr Geld. Wo soll das herkommen?
ver.di macht konkrete Vorschläge. Zum einen plädieren wir für die Einführung einer Bürgerversicherung, in die alle Einkommensarten einbezogen sind. Das würde die finanzielle Basis der Sozialversicherungen auf breitere Füße stellen. Zum anderen wollen wir den Geburtsfehler der Pflegeversicherung korrigieren: Sie soll das Pflegerisiko in Zukunft voll absichern – so, wie es in der gesetzlichen Krankenversicherung der Fall ist.
Wie funktioniert die Pflegeversicherung im Moment?
Als Teilleistungssystem. Das heißt: Nur ein Teil der notwendigen Leistungen wird aus der Pflegeversicherung finanziert. Den Rest müssen Pflegebedürftige, Angehörige oder – im Rahmen der Sozialhilfe – die Kommunen aufbringen. Das ist für die Betroffenen oft eine Überforderung. Die Finanzprobleme der Kommunen werden verschärft. Und es übt enormen Druck auf die miteinander konkurrierenden Pflegeeinrichtungen aus, die Kosten und dadurch die Eigenbeiträge zu senken.
Zwischen 1995 und 2008 wurden die Leistungen der Pflegeversicherung überhaupt nicht an die Kostensteigerungen angepasst und haben dadurch einen Viertel ihres realen Werts verloren. Eine Folge ist, dass Pflegebedürftige einen immer größeren Anteil selbst zahlen müssen. Mittlerweile werden nur noch etwa 40 Prozent der ambulanten und stationären Pflegeleistungen über die Pflegeversicherung finanziert. Diese schleichende Privatisierung der Kosten lehnen wir ab. Sie könnte mit einer Vollversicherung beendet werden.
Auch hier stellt sich die Frage: Ist das finanzierbar?
Durchaus. So zeigt der Gesundheitsökonom Markus Lüngen in einem Gutachten, dass der Beitragssatzes zur Pflegeversicherung um etwa einen Prozentpunkte angehoben werden müsste, um eine Vollversicherung zu finanzieren – jeweils zur Hälfte bezahlt von Arbeitgebern und Beschäftigten. Mit diesen vergleichsweise geringen Aufwendungen könnte den Menschen die Sorge vor der Finanzierung notwendiger Pflege im Alter genommen werden.
Fazit: Es braucht weitergehende, strukturelle Reformen.
In der Tat. Darauf wird ver.di weiter drängen. Die zum Jahreswechsel wirksam werdenden Verbesserungen wie der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff zeigen, dass man die Politik bewegen kann. Wir bleiben dran mit unserer Forderung nach bundesweit einheitlichen Personalstandards in der stationären Altenpflege. Jetzt kommt es unmittelbar darauf an, die Personalrichtwerte an den Mehraufwand anzupassen. Wir werden feststellen, wo das nötige Personal eingestellt wurde und wo nicht – und die Öffentlichkeit darüber informieren.
Interview: Daniel Behruzi
Pflegepolitik, Pflegeversicherung, Digitalisierung im Gesundheitswesen
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