Die Bewegung für Entlastung im Krankenhaus zeigt Wirkung: Die Bundesregierung will in einigen Bereichen Personaluntergrenzen einführen. Das ist ein wichtiger Schritt – doch er reicht nicht, betont Grit Genster, Bereichsleiterin Gesundheitspolitik beim ver.di-Bundesvorstand.
Die Bundesregierung hat die Einführung von Untergrenzen beim Pflegepersonal in bestimmten Bereichen auf den Weg gebracht. Wie bewertest du das?
Die Beschlüsse des Bundeskabinetts sind ein wichtiger Teilerfolg unserer Aktivitäten für Entlastung und mehr Personal im Krankenhaus. Endlich hat die Politik erkannt, dass Markt und Wettbewerb es nicht richten werden. Personalvorgaben sind für die Qualität der Versorgung und für die Patientensicherheit notwendig. Zum ersten Mal wird dieser Zusammenhang von der Großen Koalition anerkannt. Aber: Wir haben noch lange nicht die große Lösung erreicht, die wir wollen.
Es soll Untergrenzen in »pflegesensitiven« Bereichen geben. Was bedeutet das?
Niemand weiß, was darunter genau zu verstehen ist. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft und der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen sollen in Zusammenarbeit mit den privaten Versicherungen definieren, was »pflegesensitive« Bereiche sind. Der Gesetzgeber sagt, das seien diejenigen Bereiche, in denen es infolge von Personalmangel besonders häufig zu »unerwünschten Ereignissen« kommt. Wir meinen: Alle Bereiche des Krankenhauses sind »pflegesensitiv« – überall hat die Personalausstattung Auswirkungen auf die Versorgungsqualität.
Wie also müsste die von ver.di geforderte »große Lösung« aussehen?
Alle pflegerischen Bereiche brauchen personelle Mindestvorgaben, die ausreichend hoch sind, um eine sichere Patientenversorgung zu gewährleisten. Und nicht nur das: Es gilt, den Pflegebedarf jedes und jeder einzelnen Patienten bzw. Patientin zu berücksichtigen. Zusätzlich zu den Mindestvorgaben muss ermittelt werden, wie viel Personal zur Verfügung stehen muss, um dem Pflegebedarf der Patientinnen und Patienten gerecht zu werden. Langfristig muss es darum gehen, für alle Bereiche zu Personalvorgaben zu kommen. Die unterschiedlichen Berufsgruppen im Krankenhaus dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, Lösungen für Teilbereiche dürfen nicht zu Lasten anderer gehen.
Personalbemessung für alle Bereiche – ist das realistisch?
Allerdings. Andere Länder machen es uns vor. Zum Beispiel im US-Bundesstaat Kalifornien und im australischen Victoria gibt es sehr differenzierte Mindestvorgaben. In Victoria wird dabei sogar nach Früh-, Spät- und Nachtschicht sowie zwischen Krankenhäusern unterschiedlicher Versorgungsstufen differenziert. In Kalifornien gibt es neben Mindestbesetzungen ein Klassifikationssystem, das die individuellen Pflegebedarfe der Patientinnen und Patienten berücksichtigt. Die Personalausstattung muss sich danach richten.
Was geschieht, wenn die Vorgaben nicht eingehalten werden?
Wir meinen: Überall dort, wo Personalvorgaben unterschritten werden, müssen die Leistungen eingeschränkt werden. Das heißt: Betten oder ganze Bereiche müssen geschlossen werden. Alles andere gefährdet die Patientensicherheit und die Versorgungsqualität. Die Bundesregierung hingegen will Krankenhäuser, die die Vorgaben unterschreiten, mit finanziellen Abschlägen sanktionieren. Doch dadurch verbessert sich die Pflege nicht. Womöglich könnten sich Kliniken so aus ihrer Verpflichtung freikaufen. Das entspricht nicht unseren Vorstellungen.
Wie werden die Vorgaben in der Praxis kontrolliert?
Die Einhaltung der Personaluntergrenzen muss nachgewiesen werden. Nach den Plänen der Bundesregierung soll das über das Testat eines Wirtschaftsprüfers geschehen. Wir meinen: Die Personaluntergrenzen müssen auch detailliert geprüft werden – nicht nur irgendwelche Jahresdurchschnittszahlen. Zudem fordern wir, dass die Betriebs- und Personalräte dabei einbezogen werden. Leider hat die Bundesregierung diesen Vorschlag bislang nicht aufgenommen.
Auch hier können wir aus den internationalen Erfahrungen lernen: In Kalifornien gibt es in den Häusern paritätisch besetzte Gremien, in denen Beschäftigte selbst mit entscheiden, wie die Dienstpläne aussehen und wie viel Personal vorgehalten wird. Im australischen Bundesstaat Victoria werden Pflegekräfte bei der Kontrolle und Durchsetzung der gesetzlichen Vorgaben eingebunden. Solche Modelle kann ich mir für Deutschland auch sehr gut vorstellen. Positiv ist: Die Kliniken müssen in ihren Qualitätsberichten veröffentlichen, ob sie die Vorgaben einhalten. Das ist gut, denn Transparenz ist stets ein wirksames Druckmittel.
Was geschieht, wenn sich Krankenkassen und Krankenhausgesellschaft nicht auf konkrete Personalvorgaben einigen?
Wenn sie bis Mitte 2018 keine Bereiche und Untergrenzen definieren, dann wird das Bundesgesundheitsministerium das per Verordnung machen. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) hat sich schon klar positioniert: Sie hält »starre bundeseinheitliche Personalvorgaben« für »kontraproduktiv«. Deshalb haben wir große Zweifel, ob eine Einigung zwischen den Vertragsparteien überhaupt möglich ist. Dennoch ist es richtig, sie nicht aus der Verantwortung zu lassen, denn sie müssen die Vorgaben letztlich umsetzen.
Eingeführt werden sollen die Personaluntergrenzen Anfang 2019. Was geschieht bis dahin?
Das dauert noch viel zu lang. Deshalb fordert ver.di nicht nur die große Lösung, sondern auch ein Sofortprogramm, das die extreme Belastung der Pflegekräfte in den Krankenhäusern kurzfristig reduziert. Es muss sichergestellt werden, dass niemand mehr allein in einer Schicht auf Station arbeitet. Im ver.di-Nachtdienstreport haben wir aufgedeckt, dass fast zwei von drei Pflegefachkräften nachts allein arbeiten. Das ist gefährlich für Patient/innen und gesundheitsschädlich für Beschäftigte. Auch am Wochenende sind die Stationen und Bereiche viel zu schlecht besetzt. Zudem braucht gute Ausbildung mehr Zeit. Praxisanleiter/innen müssen für die praktische Anleitung der Auszubildenden freigestellt werden. Um diese drängendsten Probleme anzugehen, sind kurzfristig 20.000 Vollzeitstellen für Fachkräfte nötig.
Ein zentrales Argument der Kliniken gegen Personalvorgaben ist, dass Stellen wegen des Fachkräftemangels nicht besetzt werden könnten. In der ARD-Sendung »Hart aber fair« verwies DKG-Präsident Thomas Reumann in diesem Zusammenhang auf die Neonatologie, die intensivmedizinische Versorgung von Frühchen. Dort habe man Personalvorgaben wegen des Mangels an Fachkräften nicht besetzen können.
Die Richtlinie zur Neonatologie ist schon 2013 beschlossen worden. Erst im Januar 2017 hätten die darin enthaltenen Personalschlüssel eingehalten werden müssen. Doch statt sich darauf vorzubereiten haben die Kliniken die Hände in den Schoß gelegt. Und dann haben sie erfolgreich Druck gemacht, damit die Vorgaben um weitere drei Jahre verschoben werden. Das zeigt: Es braucht verbindliche Untergrenzen, die nicht durch Ausnahmetatbestände durchlöchert werden.
Fakt ist: Den Fachkräftebedarf werden wir nur mit guten Arbeitsbedingungen decken können; wenn junge Menschen den Pflegeberuf gerne ergreifen und Pflegekräfte ihre Arbeitszeiten nicht wegen Überlastung reduzieren müssen; und wenn Beschäftigte in die Lage versetzt werden, bis zum gesetzlichen Rentenalter im Beruf zu bleiben. Wer den künftigen Fachkräftebedarf sichern will, muss also für eine gute Personalausstattung sorgen.
Was besagt der Beschluss der Bundesregierung über die Finanzierung der zusätzlichen Stellen?
Leider lässt er in diesem wichtigen Punkt vieles offen. Für nicht schon anderweitig finanzierte Mehrkosten soll es »krankenhausindividuelle Zuschläge« geben, auch dazu müssen die Verbände der Krankenhäuser und der Krankenkassen eine Vereinbarung treffen. Für uns ist klar: Für zusätzliches Personal brauchen die Krankenhäuser eine auskömmliche Finanzierung, aber das Geld muss auch bei den Personalstellen ankommen. Die Mittel sind nicht für andere Investitionen zu verwenden und dürfen nicht eingesetzt werden, um Renditeerwartungen von Gesundheitskonzernen zu bedienen.
Angesichts der vielen Fragezeichen und Kritikpunkte: Ist der Beschluss der Bundesregierung für ver.di tatsächlich ein Teilerfolg?
Er ist ein wichtiger Schritt, weil er einen Paradigmenwechsel darstellt. Niemand bestreitet mehr den Zusammenhang zwischen angemessener Personalausstattung und Versorgungsqualität. Das haben wir mit unseren Argumenten und Aktionen erreicht. Es ist unser Erfolg. Doch unser Ziel haben wir noch lange nicht durchgesetzt. Dieses Jahr wird nicht nur der Bundestag neu gewählt, auch die Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen liegen vor uns. Für uns ist das eine Chance, den Druck für eine gesetzliche Personalbemessung weiter zu erhöhen. Wir erwarten, dass der Koalitionsvertrag der nächsten Bundesregierung die Einführung verbindlicher Personalvorgaben für alle Pflegebereiche im Krankenhaus enthält und ein Verfahren zur Ermittlung des Pflegebedarfs auf den Weg bringt.
Dieser Teilerfolg zeigt, dass sich der Einsatz lohnt. Doch Zurücklehnen ist noch lange nicht angesagt. Mit homöopathischen Dosen und Versprechen lassen wir uns nicht abspeisen. Dafür ist die Situation in den Krankenhäusern zu dramatisch.
Bereichsleiterin Gesundheitswesen/Gesundheitspolitik
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