Interview

Michael Simon fordert Standards

02.11.2014
Prof. Michael Simon

Die Fallpauschalen sind nicht allein schuld daran, dass die Klinikleitungen im Pflegebereich den Rotstift ansetzten. Ebenso dazu beigetragen haben die seit 1993 geltende Budgetdeckelung und der Umstand, dass die Länder oft ihrer Verpflichtung der Krankenhausfinanzierung nicht nachkamen und immer noch nicht nachkommen. Da die Misere in der Pflege von verschiedenen Faktoren verursacht wurde, muss auch an verschiedenen Faktoren angesetzt werden, um die Situation der Pflege zu verbessern. Das betont Professor Michael Simon von der Hochschule Hannover. Simon lehrt im Bereich Gesundheitspolitik und Gesundheitssystem. In einem Interview mit verdi.de spricht er sich für einen verbindlichen Personalbesetzungsstandard auf den Stationen aus.

Professor Simon, welches System der Personalbemessung wird derzeit in den Kliniken angewandt?

Simon: Zunächst mal: Ich plädiere dafür, nicht den Begriff „Personalbemessung“, sondern stattdessen besser den Begriff „Personalbesetzungsstandards“ zu verwenden. Wir kennen einen solchen Standard aus der Psychiatrie, die so genannte „Psychiatrie-Personalverordnung“. Eingeführt wurde dieses Verfahren Anfang der 90er Jahre: Kliniken und Krankenkassen verhandeln darüber, wie viel Personal mit welcher Ausbildung auf den Stationen eingesetzt werden soll. Allerdings sind das dann nur Richtwerte. Keine Einrichtung muss sich an diese Richtwerte halten und die damit errechnete Anzahl an Personal tatsächlich vorhalten. Für den Klinikbereich gibt es gegenwärtig keine verbindlichen Regeln zur Personalvorhaltung.

Gerade in der Pflege wurden in den vergangenen Jahren viele Stellen abgebaut.

Simon: Das stimmt. Seit 1996 wurden Stellen abgebaut. Nicht überall und nicht überall gleich viele Stellen. Aber unterm Strich gab es 2007 bundesweit 52 000 Vollzeitstellen im Pflegedienst der Stationen weniger als 1996 – das entspricht einer Verminderung um ca. 16 Prozent. Einige Kliniken haben deutlich mehr Pflegestellen gestrichen. Teilweise fielen jede fünfte oder gar jede vierte Stelle weg. Seit 2007 nimmt die Zahl der Pflegestellen wieder zu, so dass sich gegenüber 1996 das Stellenminus auf 37 000 Vollzeitstellen reduziert hat. Gleichzeitig registrieren die Kliniken seit 1996 nicht nur deutlich mehr Patientinnen und Patienten, sondern auch deutlich ältere – was den Pflegeaufwand erhöht. Kein Wunder, dass die Pflegerinnen und Pfleger über Arbeitsverdichtung klagen.

Damit wurden aber schon vor der Einführung der Fallpauschalen Stellen abgebaut.

Simon: So ist es. Die Fallpauschalen sind nicht die Ursache schlechthin für den Stellenabbau im Pflegebereich. Allerdings haben sie die Entwicklung verstärkt. Es gibt verschiedene Gründe dafür, dass die Klinikleitungen den Rotstift im Pflegebereich ansetzten – zum Beispiel die Budgetdeckelung seit 1993. Viele Kliniken haben seitdem auch mehr Pflegestellen abgebaut als aufgrund der Budgetdeckelungen notwendig erschien. Gleichzeitig stieg die Zahl der Arztstellen. Zusätzliche Arztstellen sind in einem Fallpauschalensystem insofern von besonderer Bedeutung, weil die ärztlichen Leistungen zentrale Voraussetzung für die Abrechnung von Fallpauschalen sind. Mehr Ärztestellen sind somit eine wichtige Voraussetzung für mehr Einnahmen. Zumindest ist so vielerorts die Sicht der Klinikleitungen. Pflege dagegen ist in erster Linie ein Kostenfaktor. Für die Abrechnung der Kliniken mit den Kassen spielt es eine untergeordnete Rolle, was nach der Operation passiert. Aber generell müssten die Kliniken natürlich mehr Pflegekräfte einstellen, wenn sie die Zahl ihrer Ärzte aufstocken, denn wenn mehr Patienten behandelt werden, müssen auch mehr Patientinnen und Patienten gepflegt werden. Vor allem, wenn man bedenkt, dass eine gute Nachsorge für die Patientinnen und Patienten essenziell ist. Wenn nach einer Operation Komplikationen nicht rechtzeitig entdeckt werden, kann das für die Kranken lebensbedrohlich werden. In der Regel ist es vor allem das Pflegepersonal, das sich nach der Operation um die Kranken kümmert und die Anzeichen einer Komplikation erkennen muss. Wenn es zu wenig Zeit hat, alle Patientinnen und Patienten im Auge zu behalten, kann das zu schweren Komplikationen führen, die unter Umständen tödlich verlaufen.

Gibt es Zahlen, wie oft Komplikationen infolge von zu wenig Stellen nicht erkannt werden?

Simon: Für Deutschland gibt es keine solchen Studien. In den USA  gab es in der Vergangenheit aber zahlreiche Studien dazu. Dabei wurde herausgefunden, dass das Risiko unerwünschter Ereignisse wie zum Beispiel zu spät und dadurch tödlich verlaufender Komplikationen umso höher ist, je schlechter die Personalbesetzung im Pflegedienst. 

Nochmal zurück zu der Zunahme an Ärztestellen. Durch die Arbeitszeitregelungen waren doch auch mehr Ärzte nötig.

Simon: Das stimmt. Aber es wurden mehr Ärzte eingestellt, als infolge der Arbeitszeitregelungen notwendig gewesen wären. Und vor allem: Es wurden insbesondere mehr Oberarztstellen geschaffen. Das kostete aber Geld, das unter anderem im Pflegebereich eingespart wurde.

Die Einführung des Fallpauschalensystems sorgte für einen verstärkten Abbau von Pflegestellen. Denn die Kliniken begannen schon Jahre vorher, sich auf die neue Situation einzustellen. Allein in den beiden Jahren 2003 und 2004 wurden bundesweit 24.000 Pflegestellen in den Kliniken gestrichen. Viele die gerade ihre Ausbildung beendet hatten, wurden nicht übernommen und wechselten notgedrungen in die ambulante Pflege oder in Pflegeheime. Die Ursache des derzeitigen Fachkräftemangels ist also auch in dieser Reaktion der Kliniken auf die Fallpauschalen zu suchen. Mit dem Stellenabbau setzen die Kliniken zudem eine Abwärtsspirale in Gang. denn die Höhe der Fallpauschalen wird auf Grundlage der Kosten  von 200-300 genannter ‚Kalkulationskrankenhäuser’ berechnet. Wenn die Kliniken Stellen abbauen, resultieren aus der niedrigeren Personalzahl in den Folgejahren niedrigere Ist-Kosten, die dann neuer Maßstab für alle Krankenhäuser werden. Und dadurch werden die Kliniken gezwungen, weiter abzubauen. Was wiederum dazu führt, dass die Kalkulationskrankenhäuser abbauen müssen und so weiter und so fort.

Bei privaten Kliniken ist zudem die Renditeerwartung der Eigentümer zu berücksichtigen. Auch dieser Faktor darf nicht unterschätzt werden. Die Kliniken müssen Gewinn abwerfen. Das können sie umso besser, je niedriger die Kosten sind, und das ist vor allem durch Personaleinsparungen zu erreichen.

Die Politik und die Fachleute bemängelten in den vergangenen Jahren oft die hohe Bettenzahl, die in Deutschland vorgehalten wird. Warum werden so wenig Betten abgebaut?

Simon: Es ist nicht zu bestreiten, dass es in Deutschland mehr Krankenhausbetten je Einwohner gibt als in anderen Ländern. Aber oft wurden kommunale Kliniken verkauft, so dass danach die Klinik weiterbestand, nun aber privat geführt wird. Gerade in den ländlichen Gegenden sollen Krankenhäuser in Ärztezentren umgenutzt werden – so will es die Politik. In diesem Bereich ist einiges passiert, aber letztendlich reicht das nicht aus. Dass wir nach wie vor – zumindest unterm Strich – viel zu viele Betten vorhalten, lässt sich aus folgenden Zahlen leicht erkennen: Nordrhein-Westfalen hat etwa so viele Einwohner wie die Niederlande, hält aber drei Mal so viele Krankenhausbetten vor. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die Nordrhein-Westfalen so viel kränker sind als die Holländer. Aber es sind zwei Paar Stiefel, allgemein über zu viele Krankenhausbetten zu diskutieren oder vor Ort und gegen den Willen der Bevölkerung ein Haus tatsächlich dicht zu machen.

Allerdings hilft der Blick auf die reine Bettenzahl wenig, wenn man nicht die Besonderheiten der jeweiligen Gesundheitssysteme berücksichtigt. Allein auf die Zahl der Betten zu schauen ist zudem auch nicht sachgerecht. Wichtig sind doch letztlich die Ausgaben für Krankenhäuser, und die sind in Deutschland im internationalen Vergleich niedrig. So lagen die Pro-Kopf-Ausgaben für die Krankenhausversorgung in Deutschland in den letzten Jahren beispielsweise um etwa ein Drittel unter denen der Niederlande, 50 Prozent  unter denen Dänemarks und betrugen noch nicht einmal die Hälfte der Krankenhausausgaben der USA. Dies ist auch nicht erstaunlich, weil Krankenhäuser personalintensive Einrichtungen sind. Und die Personalausstattung deutscher Krankenhäuser ist vor allem im Pflegedienst infolge des jahrelangen Stellenabbaus im internationalen Vergleich niedrig. Nicht die Zahl der vorgehaltenen Betten ist entscheidend für die Kosten, sondern die die Zahl des vorgehaltenen Personals. Womit wir wieder beim Ausgangsthema sind.

Was muss passieren, damit der Pflege in den Krankenhäusern wieder ein höherer Stellenwert eingeräumt wird und wieder mehr Pflegestellen geschaffen werden?

Simon: Ich gehe davon aus, dass sich die Lage nur dann verbessern wird, wenn es verbindliche Vorgaben des Gesetzgebers zur Personalausstattung gibt. Es gibt auch bereits Signale aus den Krankenhäusern und den Krankenkassen, dass solche Vorgaben akzeptiert oder sogar befürwortet würden. Denn so, wie es derzeit läuft, kann es nicht mehr weitergehen. Die derzeitige Situation schadet den Kranken – das bezweifelt niemand. Deshalb, scheint mir, findet gegenwärtig ein Umdenkungsprozess statt. Aber es geht natürlich auch darum, dass die Länder endlich ihren Verpflichtungen nachkommen. Es darf nicht sein, dass – weil die Länder dringend notwendige Renovierungen nicht übernehmen – die Kliniken selbst renovieren und das Geld dafür beim Pflegepersonal einsparen.

Sehen Sie Alternativen zu einem verbindlichen Personalbesetzungsstandard?

Simon: Eigentlich nicht. Mit den Fallpauschalen sollte es der Markt regeln. Doch das ist in diesem Bereich nicht möglich. Wenn wir nicht länger eine Pflege hinnehmen wollen, die für die Patienten gefährliche Züge annimmt, muss die Politik handeln und Regeln aufstellen, an die sich alle halten müssen. Ohne ein staatliches Eingreifen wird sich die Situation noch weiter verschlimmern. Das kann keiner wollen.

Fragen von Jana Bender/November 2014

 

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