Vor nicht einmal einem Jahr hat sich die Landespflegekammer in Niedersachsen konstituiert. Doch schon seit Monaten laufen Pflegekräfte im ganzen Land dagegen Sturm, dass sie zu verpflichtender Mitgliedschaft und Zwangsbeiträgen verdonnert werden. Angesichts anhaltender Proteste wächst in den niedersächsischen Regierungsfraktionen CDU und SPD die Bereitschaft, über Alternativen nachzudenken. Diesen Prozess befördern wollte eine ver.di-Konferenz, zu der am 18. Mai gut 60 Pflegekräfte in Hannover zusammenkamen. Im Ergebnis formulierten sie Vorschläge und Kriterien, wie eine Vertretung der Pflege aussehen kann, die Diskussion orientierte sich dabei vor allem am bayerischen Modell der Vereinigung der Pflegenden.
»Wir wollen ein Alternativmodell zur jetzigen Pflegekammer vorschlagen, das unter den Pflegenden in Niedersachsen breite Akzeptanz genießt«, umriss Aysun Tutkunkardes vom ver.di-Landesfachbereich Gesundheit, Soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen das Ziel der Veranstaltung in den Hannoveraner ver.di-Höfen. Auf der Grundlage konkreter Vorschläge wolle ver.di in einen konstruktiven Dialog mit der Landespolitik eintreten, um Alternativen auszuloten. In jedem Fall müssten die Pflegenden mit einer unabhängigen Vollbefragung in den Entscheidungsprozess einbezogen werden, forderte die Gewerkschafterin.
Zuvor hatte Kai Boeddinghaus vom Bundesverband für freie Kammern deutlich gemacht, dass eine Kammer mit verpflichtender Mitgliedschaft und Beiträgen – gegen die in Niedersachsen rund 50.000 Menschen per Online-Petition protestiert haben – keineswegs alternativlos ist. »Das Prinzip, dass öffentliche Aufgaben auf andere Institutionen übertragen werden, ist weit verbreitet – auch ganz ohne Zwang«, stellte Boeddinghaus fest. Als Beispiel nannte er den TÜV, der staatliche Aufgaben übernehme, ohne dass irgendwer zur Mitgliedschaft gezwungen werde. Die Verpflichtung zu Mitgliedschaft und Beitragszahlung sei ein Grundrechtseingriff, der durchaus gerechtfertigt sein könne – wenn er einem wichtigen Ziel diene und dieses nicht mit anderen Mitteln zu erreichen sei. Insbesondere Letzteres sei aber bei Pflegekammern nicht der Fall, erklärte Boeddinghaus. Für eine wirksame Interessenvertretung der Pflege sei eine Kammer mit Pflichtmitgliedschaft nicht nur nutzlos, sondern geradezu kontraproduktiv. »Die originäre Interessenvertretung ist der Kammer explizit verboten«, betonte der Kammerexperte. Sie könne daher auch nicht – wie von den Befürworter*innen immer wieder behauptet – zur wirksamen und einigenden Interessenvertretung der Pflege werden.
Die bayerische Alternative
Als Vorbild sehen viele Kritiker*innen der Landespflegekammer in Niedersachsen die Vereinigung der Pflegenden in Bayern, die ohne verpflichtende Mitgliedschaft und Beiträge auskommt. Deren Vizepräsidentin Agnes Kolbeck und Bayerns ver.di-Landesfachbereichsleiter Robert Hinke berichteten den in Hannover versammelten Kolleg*innen, wie die Vereinigung im Freistaat funktioniert. »Anders als im traditionellen Kammermodell können hier auch Pflegehilfskräfte Mitglied werden«, erläuterte Hinke. »Denn in der Pflege gibt es schon genug Spaltungen, die nicht noch dadurch verschärft werden sollten, dass Hilfskräfte von der Vereinigung ausgeschlossen sind.« Würden Hilfskräfte nicht einbezogen, wäre ein Großteil der Beschäftigten in der Altenpflege außen vor.
Da es keine Pflicht zur Mitgliedschaft und Registrierung gibt, werde in der bayerischen Vereinigung unnötige Bürokratie verhindert. Ganz anders in der Pflegekammer Niedersachsen, wo derzeit etwa zwei Drittel der aktuell 23 Mitarbeiter*innen mit der Mitglieder- und Beitragsverwaltung beschäftigt ist. Einen weiteren Vorteil der Vereinigung im Freistaat sieht Hinke darin, dass dieser nicht nur Einzelpersonen, sondern auch Gewerkschaften und Berufsverbände beitreten können. »Dadurch treten perspektivisch alle relevanten Organisationen, die sich für die beruflich Pflegenden in Bayern einsetzen, in einen institutionell vermittelten Dialog. Das ist für eine starke Stimme der Pflege sehr wertvoll.«
Finanziert wird die Vereinigung in Bayern nicht aus Mitgliedsbeiträgen, sondern aus dem Staatshaushalt. Hinke widersprach entschieden der Behauptung, dies mache sie abhängig vom Wohlwollen politischer Entscheidungsträger. Das Geld komme aus dem Staatshaushalt, nicht vom Ministerium. Möglichkeiten der direkten Einflussnahme seien damit nicht verbunden. »Auch die freie Wissenschaft wird vom Staat finanziert, dennoch kommt niemand auf die Idee, ihr deshalb die Unabhängigkeit abzusprechen«, sagte Hinke.
Die Vizepräsidentin der Vereinigung im Freistaat, Agnes Kolbeck, gab einen Einblick in deren aktuellen Aktivitäten. Diese wirkt mit in zahlreichen Gremien, tauscht sich mit Pflegewissenschaftler*innen an Hochschulen aus, pocht auf eine gute Praxisanleitung und bezieht bei Anhörungen Stellung – zum Beispiel für eine hohe Sprachkompetenz bei der Anerkennung ausländischer Qualifikationen. Die Vereinigung stellt zudem Sachverständige für Gerichte und Behörden, berät ihre Mitglieder in berufsrechtlichen, ethischen und fachlichen Fragen und plant eine Erhebung über den Arbeitskräftebedarf und die Arbeitssituation. »Wir machen viel. Klar ist aber: Die Vereinigung kann maßgebliche Probleme der Pflege nicht lösen, das ist Aufgabe der Politik«, betonte Kolbeck.
SPD-Politiker für Vollbefragung
»Wir befinden uns in einer Sackgasse«, gab der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Christos Pantazis zu, der sich in Hannover der Kritik der Pflegekräfte stellte. Die Pflegekammer habe »eine Menge Fehler gemacht«, insbesondere bei der Verschickung der Beitragsbescheide, die die Protestwelle im Dezember angestoßen hatte. Dennoch könne die Kammer »ein mögliches Schwert einer gut organisierten Pflege« sein. ver.di sei zwar »die originäre Interessenvertretung« der beruflich Pflegenden, es seien aber zu wenige Pflegekräfte gewerkschaftlich organisiert, um genug »politische Durchschlagskraft« zu entwickeln. Unter den Anwesenden führte das zu einiger Empörung. Schließlich waren es die vielen Aktivitäten von ver.di, die die Situation der Pflege ins öffentliche Bewusstsein gerückt und selbst den CDU-Bundesgesundheitsminister Jens Spahn zum Handeln gezwungen haben. »Allein in Niedersachsen sind mehrere zehntausend Pflegekräfte in ver.di organisiert«, betonte ver.di-Landesbezirksleiter Detlef Ahting. »Wir sind die starke Stimme der Pflege.«
In Bezug auf die Pflegekammer habe in Niedersachsen ein Stimmungsumschwung stattgefunden, der von den politisch Verantwortlichen nicht ignoriert werden könne. Pantazis zeigte sich offen für eine Debatte über Alternativen zur Pflegekammer. »Das bayerische Modell finde ich sehr interessant«, so der SPD-Politiker. Seine Fraktion werde sich damit tiefergehend beschäftigen. Er unterstütze auch die ver.di-Forderung nach einer Vollbefragung aller Pflegekräfte in Niedersachsen.
Die Eckpunkte für eine Alternative zur Pflegekammer erarbeiteten die Teilnehmer*innen der Konferenz in einem World Café. Das bayerische Modell bot hierfür zahlreiche Anregungen. Zwangsbeiträge und eine verpflichtende Mitgliedschaft soll es in der Vereinigung demnach nicht geben. Sie müsse transparent arbeiten und dürfe sich nicht nur mit sich selbst beschäftigen, betonten mehrere Pflegekräfte. Auch die Einbeziehung von Pflegehelfer*innen, die Beteiligung von Verbänden, der Verzicht auf eine eigene Berufsgerichtsbarkeit und eine staatliche Finanzierung sind Kriterien, die die Pflegekräfte an das neue Modell anlegen. ver.di will auf dieser Grundlage weitere Gespräche mit den Fraktionen und dem Ministerium führen, um ihnen einen Weg aus der Sackgasse aufzuzeigen und dafür zu sorgen, dass Pflegekräfte nicht zusätzlich belastet, sondern gestärkt werden.
Landesfachbereichsleiter Niedersachsen-Bremen
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