Bislang 45.000 Menschen haben eine Petition für die Abschaffung der Landespflegekammer in Niedersachsen unterzeichnet. 1.500 Befragte in Nordrhein-Westfalen mehrheitlich für eine Kammer.
Der Streit um die Einrichtung von Pflegekammern geht weiter. Dabei wird deutlich: Viele Pflegekräfte setzen sich mit dem Thema offenbar erst dann auseinander, wenn ihnen die Beitragsbescheide ins Haus flattern. So wie aktuell in Niedersachsen. Dort haben über 45.000 Menschen (Stand 21. Januar 2019) eine Petition für die Abschaffung der Landespflegekammer unterzeichnet, die sich erst im August 2018 konstituiert hatte. Anlass waren vor Weihnachten verschickte Beitragsbescheide über 140 Euro für das zweite Halbjahr 2018, die als Höchstbetrag bei Jahreseinkünften von 70.000 Euro fällig werden. Um weniger zu zahlen, sollten Mitglieder ihr steuerpflichtiges Jahresbruttoeinkommen angeben. Erst dann werde ein neuer Bescheid über 0,4 Prozent des Einkommens erstellt.
Das Vorgehen sorgte für eine Welle der Empörung. Allein bei ver.di Niedersachsen gingen innerhalb weniger Tage tausende Anrufe und mehrere hundert Protestschreiben gegen die Pflegekammer ein. Seit Beginn der Debatte und im Vorfeld der Wahl hat sich die Gewerkschaft immer wieder gegen verpflichtende Mitgliedschaft und Zwangsbeiträge positioniert. Bei der Befragung Ende 2012, Anfang 2013 hatte sich zwar eine Mehrheit grundsätzlich für die Einrichtung einer Pflegekammer ausgesprochen, nur eine Minderheit befürwortete aber Pflichtmitgliedschaft und -beiträge. Zudem wurden seinerzeit gerade einmal 1.039 Pflegekräfte nach ihrer Meinung gefragt. »Aufgrund der aktuellen Entwicklungen und Proteste reicht das heute nicht mehr. Nötig ist jetzt eine umgehende Befragung aller Pflegekräfte von einem unabhängigen Institut«, forderte ver.di-Landesleiter Detlef Ahting.
Aufgrund der Protestwelle hat die Pflegekammer die Beitragsordnung überarbeitet. Das niedersächsische Gesundheitsministerium wird die neue Beitragsordnung im Rahmen der Rechtsaufsicht auf ihre Rechtmäßigkeit überprüfen. Die Überarbeitung der Beitragsordnung allein hält Ahting allerdings nicht für ausreichend: »Zahlreiche Kolleginnen und Kollegen äußern ganz grundsätzliche Kritik an dem System Kammer.« Gewerkschaftssekretärin Aysun Tutkunkardes verwies darauf, dass 2012/2013 nach eigenen Aussagen lediglich 31 Prozent der Befragten genauer zur Thematik informiert waren, 30 Prozent hatten zum ersten Mal von der Pflegekammer gehört. »Heute sind die Pflegenden viel besser informiert, wegen des großen öffentlichen Interesses könnte bei einer Vollbefragung nun eine realistische Entscheidung möglich sein«, meint Tutkunkardes. Die bislang erst für 2020 geplante Evaluation müsse zeitnah beginnen.
Nach Ansicht von ver.di stellen die heftigen Proteste in Niedersachsen die Behauptung in Frage, dass eine große Mehrheit Pflegekammern befürworte. Auch die am 9. Januar 2019 veröffentlichten Ergebnisse einer Befragung in Nordrhein-Westfalen sind dafür kein Beleg. Denn von den 200.000 Pflegefachkräften im größten Bundesland wurden lediglich 1.503 befragt. »Die Entscheidung über eine Pflegekammer ist zu wichtig, um sie einigen Wenigen zu überlassen«, betonte die stellvertretende DGB-Landesvorsitzende Sabine Graf. »Schließlich bedeutet eine Pflegekammer, dass künftig alle Pflegefachkräfte Mitglied werden müssen und verpflichtend Beiträge zahlen.« Vor diesem Hintergrund hatten die Gewerkschaften gefordert, dass alle Pflegekräfte in die Befragung einbezogen werden.
Trotz der kontroversen Debatte zur Pflegekammer nutzte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) das Ergebnis aus Nordrhein-Westfalen, um für die Einrichtung einer Bundespflegekammer zu werben: »Eine Bundeskammer wäre sehr zu begrüßen. Schließlich brauchen wir eine starke Stimme dieser wichtigen Berufsgruppe«, so der Minister in der Rheinischen Post. Zugleich schränkte er ein, dass sich ein Großteil der Pflegekräfte für eine solche Bundespflegekammer aussprechen müsse. Zumindest in Hessen gibt es eine solche Mehrheit offenbar nicht. Dort hat die klare Mehrheit der knapp 8.000 Pflegefachkräfte, die sich an der Befragung beteiligten, die Einrichtung einer Landespflegekammer abgelehnt.
»Wenn der Bundesgesundheitsminister die Pflege wirklich stärken will, braucht es endlich wirksame Maßnahmen wie verbindliche Personalvorgaben, die sich am konkreten Pflegebedarf orientieren«, ist ver.di-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler überzeugt. Pflegekräfte bräuchten spürbare Entlastung durch mehr Personal und Zeit. »Der Staat hat die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass gute Pflege möglich ist und die Gesundheit der Beschäftigten geschützt wird«, so die Gewerkschafterin.
Die Missstände in der Pflege seien lange bekannt: »Es gibt kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem.« Nach den öffentlichen Protesten, betrieblichen Aktionen und Streiks für einen Tarifvertrag Entlastung könne niemand mehr die Bedeutung der Pflege und die oft tragische Situation in den Pflegeeinrichtungen und Kliniken leugnen. »Die Pflegekräfte können viel bewegen«, ist sich Bühler sicher. »Durch den freiwilligen Zusammenschluss und das selbstbewusste Eintreten für eigene Interessen verschaffen sie sich Respekt.«
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