Kampf um Kammern

Baden-Württemberg und NRW setzen auf Pflegekammern. ver.di plädiert für demokratische Abstimmungen und verweist auf die bayerische Alternative.
09.06.2023

Der Landtag von Baden-Württemberg hat am Mittwoch (24. Mai 2023) trotz heftiger Kritik die Gründung einer Landespflegekammer auf den Weg gebracht. »Ich bin enttäuscht«, sagt die Altenpflegerin Ilka Steck. »Die Landesregierung könnte so viel tun, um die Bedingungen in der Pflege tatsächlich zu verbessern. Stattdessen schafft sie ein Placebo, das niemandem hilft und den Druck auf uns noch verstärkt.« Empört ist die Pflegerin auch darüber, dass sie und ihre Kolleg*innen nicht selbst entscheiden können, ob sie eine Kammer wollen oder nicht. »Die Pflegekammer soll dadurch legitimiert werden, dass 60 Prozent der Pflegefachpersonen registriert sind. Aber wenn die Registrierung nicht freiwillig ist, ist das reine Augenwischerei.«

 

Laut Landtagsbeschluss findet die Gründungsversammlung zur Pflegekammer nur statt, wenn mindestens 60 Prozent der beruflich Pflegenden registriert ist. Allerdings können sie sich nicht freiwillig dafür entscheiden. Vielmehr sollen die Arbeitgeber verpflichtet werden, die entsprechenden Daten zu übermitteln. Die Betroffenen müssten danach aktiv widersprechen. »Das ist der scheinheilige Versuch, der Kammer dennoch ein Mäntelchen demokratischer Legitimation anzuziehen«, kritisiert Ilka Steck. »Offenbar hat die Landesregierung sehr wenig Vertrauen in ihre Überzeugungskraft.«

Schon jetzt seien Pflegekräfte – deren große Mehrheit in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis arbeitet – im Arbeitsalltag mit etlichen Vorgaben und Pflichten konfrontiert, betont die Gesundheits- und Krankenpflegerin Lilian Kilian. »Jetzt soll eine Kammer eingerichtet werden, die allen Pflegefachpersonen als Zwangsmitglieder weitere Vorschriften machen und sogar Bußgelder bei Fehlverhalten verhängen kann. Wir Pflegefachpersonen werden so zum Diener zweier Herren.« Die engagierte Personalrätin und Gewerkschafterin ist davon überzeugt, dass die Kammer keines der drängenden Probleme lösen wird. »Das müssen wir selbst tun. Mit unserer Gewerkschaft ver.di kämpfen wir seit Jahren um bessere Bedingungen für Beschäftigte und Menschen, die auf Pflege angewiesen sind.« So zum Beispiel mit den Tarifverträgen für mehr Personal und Entlastung, die ver.di an bundesweit 25 Krankenhäusern durchgesetzt hat.

Ob und wie die beruflich Pflegenden über die Einrichtung einer Kammer entscheiden können, ist auch in Berlin Thema. Dort haben CDU und SPD im Koalitionsvertrag eine »zeitnahe Durchführung einer Befragung der Menschen in Pflegeberufen« über eine institutionelle Interessenvertretung angekündigt, »deren Ergebnis als Grundlage für die Errichtung einer dann zu schaffenden Institution dienen wird«. Die Pflegekräfte sollten selbst entscheiden können, ob und welche Form institutioneller Interessenvertretung sie haben wollen, betont die Krankenpflegerin Silvia Habekost. »Wer wissen will, was wir Pflegekräfte heute wollen, muss sie befragen: per Vollbefragung und nach einer ehrlichen Debatte, für was eine Pflegekammer zuständig sein kann und soll, und wer dafür bezahlt«, so die ehrenamtliche Vorsitzende des Fachbereichs Gesundheit, Soziale Dienste, Bildung und Wissenschaft bei ver.di Berlin.

 
Pflegepersonal hat mehr verdient

ver.di steht für Transparenz

In Nordrhein-Westfalen, wo sich die Landespflegekammer im Dezember 2022 konstituierte, setzen sich die ver.di-Aktiven ebenfalls dafür ein, dass die Pflegekräfte in einer Urabstimmung selbst über die Kammer entscheiden können. Anträge für diese Forderung wurden in der Vollversammlung der Pflegekammer allerdings mehrheitlich abgelehnt. An der Kammerwahl im vergangenen Jahr hatte sich weniger als jede zehnte der 220.000 Pflegekräfte im Land beteiligt. Die ver.di-Liste stellt mit inzwischen 18 Mitgliedern aus fünf Bezirken in der Vollversammlung die größte Fraktion. Die kammerkritischen Listen sind in der 60köpfigen Versammlung jedoch insgesamt in der Minderheit.

Die Urabstimmung bleibe zwar das Ziel, in der Kammer gehe es nun aber vor allem darum, im Sinne der abhängig Beschäftigten konkret Einfluss zu nehmen, betont die Sprecherin der ver.di-Fraktion, Jasmina Dinter. Für die examinierte Altenpflegerin ist Transparenz besonders wichtig. Die Debatten der Vollversammlung werden per Livestream im Internet übertragen, wodurch alle dort angesprochenen Themen per se öffentlich sind. »Die Pflegekammer darf kein Hinterzimmer sein, in dem Funktionäre entscheiden, was gut ist für die Pflege«, meint Jasmina Dinter. »Wir wollen, dass alle bestmöglich informiert sind und mitsprechen können.« Deshalb veröffentlicht die ver.di-Fraktion regelmäßig ein Informationsblatt, die Kammertöne. Einmal im Monat sollen die Gewerkschaftsmitglieder die Möglichkeit haben, sich in einer Videokonferenz über aktuelle Entwicklungen zu informieren. Perspektivisch soll auch Social Media stärker genutzt werden, um Pflegekräfte zu erreichen.

Im August wollen die in der Kammer aktiven ver.di-Mitglieder zu einer Klausurtagung zusammenkommen und Positionen erarbeiten. »Wir wollen mitgestalten, im Interesse der angestellten Pflegekräfte«, erklärt die Fraktionssprecherin. Das betrifft beispielsweise die Gestaltung der Aus-, Fort- und Weiterbildung, was eine der Aufgaben ist, die der Pflegekammer zugewiesen wurden. Thema ist auch, wie die Kammer selbst funktioniert. So ist bislang zum Beispiel nicht geregelt, dass angestellte Pflegekräfte für die Kammerarbeit freigestellt werden. Die SPD-Fraktion hat im Landtag einen Antrag eingebracht, der das ändern soll. »Freistellungen sind wichtig, damit alle unabhängig vom Arbeitgeber richtig mitarbeiten können«, meint Jasmina Dinter. Ein weiterer Diskussionspunkt wird die Frage der Mitgliedsbeiträge sein: Bis Mitte 2027 leistet das Land eine Anschubfinanzierung, danach werden Beiträge fällig.

 
Pflege braucht eine warme Hand

Rheinland-Pfalz: Debatte über Fortbildungsordnung

Während die Landespflegekammern in Schleswig-Holstein und Niedersachsen nach klaren Voten der Pflegekräfte wieder abgeschafft wurden, besteht in Rheinland-Pfalz seit 2016 eine Kammer. Die Resonanz innerhalb der Berufsgruppe ist allerdings begrenzt. Von den 43.000 Mitgliedern beteiligten sich an der letzten Wahl zur Vertreterversammlung im Sommer 2021 nur 6.176. Die zwei regionalen ver.di-Listen erhielten mit zusammen gut 25 Prozent die meisten Stimmen. Wie schon in die Debatte über die Berufsordnung bringen sich die ver.di-Aktiven aktuell in die Diskussionen über eine Fortbildungsordnung ein. »Das betrifft alle Pflegekräfte im Land«, streicht Silke Präfke vom Vorstand der Landespflegekammer deren Bedeutung heraus. »Keine Frage: Regelmäßige Fortbildungen und lebenslanges Lernen sind total wichtig«, betont die Gewerkschafterin. »Als ver.di-Fraktion treten wir dafür ein, dass die Arbeitgeber verpflichtet werden, die Beschäftigten für Fortbildungen bezahlt freizustellen. Allerdings kann das nicht die Pflegekammer beschließen, hier müssen die politisch Verantwortlichen ein entsprechendes Gesetz auf den Weg bringen.«

Auch in allen anderen Fragen machen sich die ver.di-Aktiven in der Landespflegekammer konsequent für die Belange der angestellten Pflegekräfte stark. »Gerade erst hatten wir ein Gespräch mit dem zuständigen Ministerium über Digitalisierung in der Pflege«, berichtet Präfke, die im Kammervorstand für Technisierung/Digitalisierung zuständig ist. »Wir haben deutlich gemacht, dass der Einsatz digitaler Technik den Leistungsdruck nicht noch steigern darf, sondern für bessere Arbeitsbedingungen genutzt werden muss.« Die Beschäftigten und ihre Interessenvertretungen müssten bei der Einführung neuer Technologien frühzeitige einbezogen werden. »Insgesamt braucht es eine gute Balance zwischen Mensch und Technik. Pflege ist und bleibt Beziehungsarbeit.«

 

So geht´s auch: Vereinigung der Pflegenden in Bayern

Dass es auch ohne verpflichtende Mitgliedschaft und Zwangsbeiträge geht, zeigt derweil Bayern. Dort besteht seit 2017 die Vereinigung der Pflegenden in Bayern (VdPB), der sich sowohl individuelle Pflegekräfte als auch Organisationen anschließen können. Die VdPB ist wie jede Selbsverwaltung eine Körperschaft öffentlichen Rechts. Ihre Vizepräsidentin Agnes Kolbeck zieht eine positive Bilanz der vergangenen fünf Jahre, sieht aber auch Veränderungsbedarf. »Es hat sich gezeigt: Der Weg, den Bayern geht, ist der richtige«, findet die Krankenschwester aus dem oberpfälzischen Donaustauf. »Wir sind eine wichtige Plattform und ein Netzwerk für Pflegeprofis.«

So zum Beispiel am 26. Juli 2023 bei einem Kongress für Praxisanleiter*innen, der auf große Resonanz stößt. Mehr als 14.000 Pflegepersonen haben sich über die Vereinigung als Praxisanleiter*innen registrieren lassen. »Wir vermitteln das Handwerkszeug, indem wir eine Vielzahl von Fortbildungen anbieten und Ansprechpartner sind«, erläutert Agnes Kolbeck. Stolz sind sie und ihre Mitstreiter*innen auch auf die Rolle der VdPB in der Corona-Pandemie: In kürzester Zeit baute die Vereinigung im März 2020 einen Pflegepool auf, bei dem sich über 4.000 Pflegekräfte freiwillig für Einsätze auf Basis des Bayerischen Katastrophenschutzgesetzes meldeten.

Trotz der Erfolge sieht Kathrin Weidenfelder Reformbedarf. »Die Aufgaben der Vereinigung der Pflegenden in Bayern sollten präzisiert und erweitert werden«, erklärt die gelernte Kinderkrankenschwester, die dem VdPB-Vorstand angehört. Das betreffe beispielsweise die Weiterbildung. Die Selbstverwaltung soll eine Weiterbildungsordnung entwickeln, die wegen des neuen Pflegeberufegesetzes dringend gebraucht wird. Wichtig sei zudem eine verlässliche Finanzierung. Bislang wird diese über den Landeshaushalt bestritten. ver.di plädiert stattdessen für eine institutionelle Förderung durch das Land, was die Unabhängigkeit der Vereinigung gegenüber der Politik noch sichtbarer machen würde. Auf diese Weise werden beispielsweise Forschungseinrichtungen finanziert. »Wir agieren unabhängig von staatlichen Eingriffen«, betont Kathrin Weidenfelder. »Eine institutionelle Förderung könnte das noch deutlicher machen. Klar ist aber: Dass Pflegekräfte durch Zwangsbeiträge eine gesellschaftliche Aufgabe finanzieren, soll es in Bayern auch weiterhin nicht geben.«

 

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