Pflegekammern lösen die Probleme der Pflege nicht. Diese These findet derzeit vielfältige Bestätigung. Ob in Rheinland-Pfalz, Niedersachsen oder Schleswig-Holstein – wo Landespflegekammern eingerichtet wurden, haben diese bisher nichts zu Verbesserung der Situation beigetragen. Im Gegenteil: Im Norden stehen die Kammern bei ihren eigenen Mitgliedern massiv in der Kritik. Nach Protesten haben die Landesregierungen dort beschlossen, vorübergehend keine Mitgliedsbeiträge mehr zu erheben und alle Pflegekräfte über die Kammern abstimmen zu lassen. Doch das Chaos geht weiter. In Niedersachsen musste die im Auftrag des Landessozialministeriums durchgeführte Befragung wegen einer Datenpanne abgebrochen werden. Noch dazu sorgte die Fragestellung für Verwirrung und Empörung. Und in Rheinland-Pfalz hat die Landespflegekammer erstmals eine Berufsordnung verabschiedet, die den Druck auf die Beschäftigten erhöht statt ihn zu verringern.
Trotz dieser Erfahrungen wollen manche Landesregierungen nun ebenfalls Pflegekammern einrichten – so in Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg. In ver.di organisierte Pflegekräfte warnen davor, die Fehler zu wiederholen. Und sie verweisen auf das Beispiel Bayern: Dort kommt die Vereinigung der Pflegenden ohne Pflichtmitgliedschaft und Zwangsbeiträge aus. Das hindert sie nicht daran, ihre Stimme im Sinne der beruflich Pflegenden zu erheben, zum Beispiel in der Frage der Vorbehaltsaufgaben für die Fachpflege.
Nach langem hin und her wurden die rund 90.000 niedersächsischen Pflegekräfte Anfang Juni endlich nach ihrer Meinung in Sachen Pflegekammer befragt – und dann musste die vom Landessozialministerium in Auftrag gegebene Erhebung schon nach wenigen Tagen wegen einer Datenpanne abgebrochen werden. Da Fragebögen von Pflegekräften möglicherweise manipuliert worden seien, könne die Befragung nicht fortgesetzt werden, erklärte Niedersachsens Sozialministerin Carola Reimann am Dienstag (16. Juni 2020) in Hannover. »Der Vorgang ist schon symptomatisch für die Probleme, die in Zusammenhang mit der Pflegekammer entstanden sind«, meint die Altenpflegerin Christa Greve. Doch die Situation biete auch die Chance, die bislang unklare Fragestellung eindeutig zu formulieren.
»Wünschen Sie sich für die Zukunft eine beitragsfreie Pflegekammer in Niedersachsen?« Auf diese Frage sollten die Kammermitglieder mit ja oder nein antworten – was zu erheblicher Verwirrung führte. Sozialministerin Reimann hat mittlerweile zugesagt, dies zu korrigieren. »Die Befragung muss feststellen, was die Pflegekräfte im Land tatsächlich wollen«, betont Greve. »Damit wir uns endlich wieder den wirklich wichtigen Fragen zuwenden können.« Nicht zuletzt die Corona-Pandemie habe sichtbar gemacht, welche Veränderungen nötig sind. »Wir brauchen bedarfsgerechte Personalvorgaben, eine auskömmliche Finanzierung der Einrichtungen und vor allem in der Altenpflege eine bessere Bezahlung – das sind die wichtigen Themen für die Pflege.«
David Matrai, der bei ver.di in Niedersachsen für das Gesundheitswesen zuständig ist, fordert, dass die Landespflegekammer die für 2018 und 2019 eingezogenen Beiträge sofort zurücküberweist. Das Land stellt dafür sechs Millionen Euro zur Verfügung, doch die Rückzahlung ist bislang nicht erfolgt. »Das muss jetzt schnellstens passieren und die Beitragsfreiheit muss dauerhaft festgeschrieben werden«, betont der Gewerkschafter.
In Schleswig-Holstein ist die Situation ähnlich wie in Niedersachsen. Nachdem die Pflegeberufekammer im April 2018 eingerichtet wurde, liefen tausende Pflegekräfte im Land Sturm gegen Pflichtmitgliedschaft und -beiträge. Im vergangenen Jahr legten nur 6.000 der schätzungsweise rund 27.000 zahlungspflichtigen Pflegekräfte ihre Jahreseinkünfte offen, nach denen die Beitragshöhe bemessen werden sollte. Um die Pleite zu verhindern, griff das Land der Kammer mit drei Millionen Euro unter die Arme. Die Finanzierung ist an die Bedingung geknüpft, die Mitgliedsbeiträge für 2019 auszusetzen und eine Vollbefragung unter den beruflich Pflegenden durchzuführen. Monatelang wehrte sich die Kammerspitze dagegen, ein demokratisches Votum herbeizuführen. Aus purer Geldnot kündigte sie schließlich eine Befragung für das erste Quartal 2021 an.
Die Kinderkrankenschwester Astrid Petersen, die auch Mitglied der Kammerversammlung ist, betont: »Die Pflegekräfte sollten so schnell wie möglich nach ihrer Meinung gefragt werden.« Zudem müsse eine eindeutige Frage gestellt und die Erhebung durch eine unabhängige Instanz organisiert werden. »Am besten wäre es, wenn die Befragung unter der Regie des Landeswahlleiters oder einer anderen neutralen Stelle stattfindet.«
Auch die Befürworter*innen der Pflegeberufekammer sollten ein Interesse an einer raschen Vollbefragung mit klarer Fragestellung haben, argumentiert der Leiter des ver.di-Fachbereichs Gesundheit und Soziales in Norddeutschland, Steffen Kühhirt. Andernfalls könne die Debatte im Herbst wieder hochkochen, wenn die Beitragsbescheide für das laufende Jahr verschickt werden. »Statt sich ständig mit der Pflegekammer zu beschäftigen, brauchen wir eine breite Diskussion darüber, wie die Pflege ihren gemeinsamen Interessen mehr Nachdruck verleihen kann.« Einen Erfolg in dieser Hinsicht habe ver.di zuletzt mit der von der Kieler Landesregierung beschlossenen Prämie erreicht, die anders als in anderen Ländern nicht nur den Beschäftigten in Pflegeeinrichtungen, sondern auch in Krankenhäusern zugutekommt. »Das und die erfolgreiche Tarifbewegung für Entlastung am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein sind Beispiele dafür, dass Pflegekräfte etwas bewegen können, wenn sie sich gemeinsam mit anderen Beschäftigten dafür einsetzen«, so Kühhirt. Die Positionen des ver.di-Landesbezirks Nord zur Pflegeberufekammer kann man sich auch in einem podcast anhören.
Erstmals hat in Rheinland-Pfalz eine Landespflegekammer eine Berufsordnung verabschiedet. Verbessert sie die Situation der Pflegekräfte? Ganz im Gegenteil, meint Silke Präfke, Präsidentin des ver.di-Pflegerats Rheinland-Pfalz-Saarland und Mitglied in der Vertreterversammlung der Pflegekammer, in einem Interview. Denn die Berufsordnung nehme lediglich die beruflich Pflegenden in die Pflicht. Diese sollen beispielsweise für »die vollständige und fälschungssichere Dokumentation des Pflegeprozesses oder die sichere Verwahrung erhobener Daten« verantwortlich sein. »Als angestellte Pflegekraft habe ich darauf aber nur sehr begrenzten Einfluss«, gibt Präfke zu bedenken. Gleiches gelte für die Qualitätssicherung und andere Vorgaben. »Wenn die Pflegekammer die Arbeitgeber zur Schaffung entsprechender Rahmenbedingungen verpflichten könnte, würden all diese Vorgaben Sinn machen. So üben sie lediglich zusätzlichen Druck auf die beruflich Pflegenden aus, ohne deren Situation zu verbessern.«
Die Wahlen zur zweiten Vertreterversammlung der Pflegekammer in Rheinland-Pfalz sollten ursprünglich im Spätherbst 2020 stattfinden, wurden wegen der Pandemie aber auf den 23. April 2021 verlegt. Die in ver.di organisierten Pflegekräfte haben hierfür ein 7-Punkte-Programm verabschiedet und zwei Kandidatenlisten aufgestellt. Eine zentrale Debatte, die sie mit einer Pflegekonferenz am 7. März 2020 in Kaiserslautern anstießen, dreht sich um die Frage: »Wie wollen wir pflegen?« Von den mehr als 100 anwesenden Pflegekräften kritisierten viele die Aufspaltung von Tätigkeiten und forderten eine ganzheitliche Pflege.
Mit solchen und vielen weiteren Aktivitäten will der ver.di-Pflegebeirat in Rheinland-Pfalz die Vernetzung der Pflegekräfte voranbringen. »Der Unmut unter den Kolleginnen und Kollegen ist enorm. Es ist Zeit für einen Pflegeaufstand«, betont der ver.di-Pflegebeauftragte Michael Quetting, dessen Funktion im Zuge der Auseinandersetzung neu geschaffen wurde. »Der erste erfolgreiche Schritt war der Tarifvertrag für mehr Personal und Entlastung an der Unimedizin Mainz, wo zum 1. September in den Stationen und Bereichen Personalsollzahlen eingeführt werden«, erklärt der Gewerkschafter. »Werden die Vorgaben nicht eingehalten, erhalten die Betroffenen zusätzliche freie Tage. Ein Riesen-Erfolg, der zeigt, was möglich ist.«
In Baden-Württemberg empfahl eine Enquetekommission der Landesregierung 2016, »die Entwicklungen zu den Entstehungsprozessen in anderen Bundesländern sorgfältig mit zu verfolgen«. In einem Minderheitenvotum erklärten die Fraktionen von CDU und FDP/DVP. »Sollten sich nachweisbare Verbesserungen in den Arbeitsbedingungen und bei der Qualitätssicherung sowie eine nachhaltige Stärkung des Berufsfeldes Pflege auf die Einführung der Pflegekammer zurückführen lassen, so kann auch in Baden-Württemberg die Einführung einer Pflegekammer auf den Weg gebracht werden.« Von solch nachweisbaren Verbesserungen kann in Rheinland-Pfalz, Niedersachsen und Schleswig-Holstein keine Rede sein. Dennoch hat die baden-württembergische Regierungskoalition aus Grünen und CDU Ende März 2020 einen Gesetzentwurf zur Schaffung einer Landespflegekammer auf den Weg gebracht.
Die ver.di-Mitglieder haben sich unter anderem bei zwei landesweiten Krankenhauskonferenzen klar dagegen positioniert. Sie verweisen auf die heftigen Auseinandersetzungen, zu denen die Pflegekammern in Norddeutschland geführt haben. »Die Errichtung einer Pflegekammer kostet Kraft, Geld und Zeit, die für eine wirksame Verbesserung der Situation der Pflegenden gebraucht werden«, heißt es in einer Stellungnahme von ver.di und DGB zum Gesetzentwurf. Eine Kammer trage nicht dazu bei, den beruflichen Alltag der Pflegenden zu verbessern, sondern bürde diesen noch zusätzliche Lasten auf. Zudem bedeute sie »statt mehr Selbstbestimmung eine doppelte Fremdbestimmung«: Angestellte Pflegekräfte, die den Regeln der Kammer folgen müssen und zugleich dem Direktionsrecht ihres Arbeitgebers unterliegen, würden zum »Diener zweier Herren« gemacht. Mit diesen und vielen weiteren Argumenten plädieren ver.di und der DGB dafür, die Errichtung einer Pflegekammer im Südwesten nicht weiter zu verfolgen.
In Nordrhein-Westfalen ist die Entwicklung schon einen Schritt weiter: Hier beschloss der Landtag am Mittwoch (24. Juni 2020) ein entsprechendes Gesetz. Die SPD stimmte dagegen. Vorausgegangen war eine Befragung im Herbst 2018, bei der von 200.000 Pflegefachkräften im Land 1.500 ausgewählt wurden. Eine Mehrheit der Befragten sprach sich dabei für die Pflegekammer aus. Die Altenpflegerin Marion Krohn bedauert die Entscheidung. »Es reicht nicht aus, etwa ein Prozent der Pflegefachkräfte zu befragen. Die Kolleginnen und Kollegen müssen sich ihre Meinung bilden und im Rahmen einer Vollbefragung ihr Votum abgeben können – das muss sein.«
In der Corona-Krise sei die Arbeit der beruflich Pflegenden zwar mit Applaus bedacht worden. »Das allein verändert aber weder unsere Arbeitsbedingungen noch sichert es eine würdige Betreuung und Versorgung alter, kranker und behinderter Menschen«, betont die Betriebsratsvorsitzende der SBK Sozial-Betriebe-Köln gGmbH. Nötig seien mehr Personal und bessere Einkommen. »Doch dies durchzusetzen, dafür ist die Pflegekammer nicht zuständig.«
Maria Tschaut von ver.di-NRW verweist auf die Erfahrungen in Niedersachsen und Schleswig-Holstein, deren Landesregierungen sich ebenfalls zunächst auf repräsentative Befragungen beschränkt hatten. »Jetzt müssen sie nach heftigen Protesten das Versäumte nachholen und Vollbefragungen durchführen. Nordrhein-Westfalen hätte sich das ersparen können.«
Auch in Hamburg kommt die Diskussion zum Thema Pflegekammer erneut auf. Laut Koalitionsvertrag wollen SPD und Grüne »gemeinsam mit den Pflege-Berufsverbänden« und anderen »die Möglichkeit einer erneuten Vollbefragung aller Hamburger Pflegekräfte zur Gründung einer Landespflegekammer beraten«. Dazu hatten die beruflich Pflegenden in der Hansestadt allerdings bereits 2014 die Gelegenheit. Kaum mehr als ein Drittel von ihnen sprach sich damals für eine Kammer aus. »Wir sehen überhaupt keine Notwendigkeit, das Thema jetzt schon wieder aufzumachen«, erklärt Hilke Stein, die bei ver.di in Hamburg für das Gesundheitswesen zuständig ist. »Die Erfahrungen in anderen Bundesländern zeigen, dass Pflegekammern alles andere als ein Erfolgsmodell sind. Stattdessen braucht die Pflege wirkliche Verbesserungen, zum Beispiel mehr Personal und eine bedarfsgerechte Finanzierung.«
Es geht auch anders. Das zeigt die Vereinigung der Pflegenden in Bayern (VdPB), die als Körperschaft öffentlichen Rechts nicht nur Einzelmitglieder, sondern auch Verbände zusammenbringt. Auch ver.di ist in und mit der Vereinigung aktiv. Sie kommt ohne Zwangsmitgliedschaft und -beiträge aus. Am 24. September soll ihre erste Delegiertenversammlung stattfinden, die Delegierten wurden soeben per Briefwahl gewählt. »Wir sind das unabhängige Sprachrohr «der beruflich Pflegenden im Freistaat«, erläutert die Krankenschwester und VdPB-Vizepräsidentin Agnes Kolbeck. Neben kostenloser Beratung in berufsrechtlichen, -ethischen und fachlichen Fragen ist die Vereinigung in wichtigen Gremien wie dem Landespflegeausschuss vertreten. Zudem bietet sie ein Forum für Diskussionen über die Weiterentwicklung der Pflegeberufe – zum Beispiel über die Frage vorbehaltener Tätigkeiten.
»Die Verantwortung, die Pflegekräfte in der alltäglichen Praxis – insbesondere in der aktuellen Corona-Krise – übernehmen, muss ihnen auch in aller Eindeutigkeit und Klarheit berufsrechtlich übertragen werden«, heißt es in einem zum Tag der Pflegenden veröffentlichten Positionspapier. »Dazu gehören klar definierte Vorbehaltsaufgaben für die Fachpflege.« Zu diesem Thema hat die VdPB einen Dialog mit Vertreter*innen von Kammern und Fachreferent*innen aus dem ganzen Bundesgebiet initiiert, wozu am 29. Juni 2020 (nach Redaktionsschluss) eine Veranstaltung in der bayerischen Vertretung in Berlin stattfindet.
Auch in Sachen Weiterbildung hat die Vereinigung bereits etwas vorzuweisen: Sie legte den Entwurf für eine 300-stündige Weiterbildung von Praxisanleitungen vor. Zudem hat sie ein bayernweites Monitoring gestartet, das als Basis einer »regionalisierten Erfassung des Pflegepersonalbedarfs« dienen soll. Mit ihrer Expertise will die VdPB im Sinne der beruflich Pflegenden auf die Planung der Gesundheitsversorgung im Freistaat Einfluss nehmen. Kolbecks Fazit: »Wir zeigen, dass eine Vereinigung der Pflegenden durchaus etwas bewegen kann – auch ohne verpflichtende Mitgliedschaft und Beiträge, mit inhaltlicher Arbeit.«
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