Altenpflege

Erprobung jetzt in die Wege leiten

16.10.2020

Erstmals liegt ein wissenschaftlich fundiertes Instrument zur Personalbemessung in der Altenpflege vor. Es sollte rasch getestet werden. Interview mit Professor Rothgang. Heinz Rothgang ist Professor für Gesundheitsökonomie an der Universität Bremen und Leiter der Abteilung Gesundheit, Pflege, Alterssicherung am SOCIUM – Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik. Er leitete das von den Vertragspartnern der Pflegeselbstverwaltung in Auftrag gegebene Projekt zur »Entwicklung und Erprobung eines wissenschaftlich fundierten Verfahrens zur einheitlichen Personalbemessung in Pflegeeinrichtungen«, dessen Abschlussbericht nun vorliegt.

 
Prof. Dr. Heinz Rothgang

Sie haben auf Grundlage umfangreicher empirischer Untersuchungen einen Algorithmus entwickelt, der den Personalbedarf in stationären Pflegeeinrichtungen bemessen soll. Können Sie grob skizzieren, wie das funktioniert?

Bei der Anwendung funktioniert der Algorithmus denkbar einfach: Es muss nur die Zahl der pflegebedürftigen Menschen mit ihren jeweiligen Pflegegraden eingegeben werden. Heraus kommt das notwendige Pflegepersonal, differenziert nach Qualifikationsstufen von 1 bis 4, wobei 4 Fachkräfte, 3 Assistenzkräfte mit ein- bis zweijähriger Ausbildung und 1 und 2 angelernte Kräfte sind.

Den Algorithmus zu entwickeln, war aber sicher komplizierter.

Natürlich. »Unter der Haube« findet eine ganze Menge statt. Da stecken viele fachliche Überlegungen und sehr viel Empirie drin. Wir sind in 62 vollstationäre Einrichtungen gegangen und haben für alle teilnehmenden Heimbewohnenden gemeinsam mit der Bezugspflegekraft eine Pflegeplanung geschrieben und dann eine Woche lang jede Pflegekraft dort »beschatten« lassen – und zwar durch andere Fachkräfte, die jeweils zur Hälfte von den Anbietern und von den Prüfdiensten der Krankenversicherungen benannt wurden. Sie haben nicht nur genau dokumentiert, welche Interventionen bei welchen Bewohnerinnen und Bewohnern durchgeführt wurden, sondern auch festgehalten, welche Leistungen fehlten. Sie haben die erbrachten Interventionen zudem bewertet, auf Grundlage umfangreicher theoretischer Vorarbeiten, mit denen wir die fachgerechte Ausübung der jeweiligen Interventionen beschrieben haben. Und, um der Individualität gerecht zu werden, haben wir die fachgerechte Erbringung auch noch für jede Bewohnerin und jeden Bewohner angepasst – unter Berücksichtigung insbesondere etwaiger Mobilitätseinschränkungen und kognitiver Einschränkungen. So haben wir für unseren Interventionskatalog ermittelt, welche Teilschritte und welches Qualifikationsniveau für die fachgerechte Ausführung der jeweiligen Interventionen nötig sind. Auf dieser Grundlage haben wir 140.000 Interventionen bei knapp 1.400 Bewohnerinnen und Bewohnern analysiert. Das ist die Basis des Algorithmus.

Können Sie dadurch nun beziffern, wie viel mehr Personal in den Pflegeheimen nötig wäre, um eine bedarfsgerechte Versorgung zu ermöglichen?

Als Referenz nehmen wir ein Pflegeheim mit 100 Bewohnern und einer Verteilung der Pflegegrade wie im Bundesdurchschnitt. In diesem Fall ist etwa 36 Prozent mehr Personal nötig. Allerdings sind das in erster Linie Assistenzkräfte mit ein- bis zweijähriger Ausbildung.

Was bedeutet das hochgerechnet auf alle Einrichtungen?

Dass wir gut 100.000 Vollzeitstellen in der Pflege mehr brauchen.

Wie wird sich der Personalbedarf in den kommenden Jahren entwickeln?

Wir haben vorausberechnet, wie stark die Schere zwischen Angebot und Nachfrage an Pflegekräften bis 2030 weiter auseinandergehen wird. Schon jetzt gibt es bei Fachkräften eine Lücke von 20.000 Vollzeitstellen. Diese Lücke wird allein wegen der demografischen Entwicklung – bei Beibehaltung der jetzigen Versorgungsschlüssel – auf 51.000 anwachsen. Bei Umsetzung der bedarfsgerechten Personalbemessung wären es dann insgesamt 186.000 fehlende Pflegekräfte – die meisten von ihnen, nämlich 112.000, ein- bis zweijährig ausgebildete Assistenzkräfte.

Was ist Ihre Schlussfolgerung daraus?

Eine unserer Empfehlung ist, dass der Blick – neben der notwendigen Ausweitung der Fachkräfteausbildung – stärker auch auf die Ausbildung dieser Assistenzkräfte gerichtet wird. Hier braucht es ebenfalls eine Ausbildungsoffensive. Es wäre zudem wünschenswert, wenn die unterschiedlichen Länderausbildungen auf den Prüfstand gestellt würden, um eine Harmonisierung zu erreichen, auch in Bezug auf die Curricula.

Nun liegt erstmals ein wissenschaftlich fundiertes Personalbemessungsinstrument für die Altenpflege vor. Was muss als nächstes geschehen?

Die von der Bundesregierung geplanten 20.000 zusätzlichen Assistenzkraftstellen sind ein erster Schritt, der immerhin ein Fünftel der bestehenden Lücke füllen könnte. Doch diesem müssen weitere Schritte folgen. Wir brauchen jetzt einen verbindlichen Fahrplan, wie der Personalaufbau stattfindet. Wir müssen das Signal aussenden, dass die Pflege attraktiver wird. Zu viele verlassen im Moment den Pflegeberuf, weil sie die Arbeitsbedingungen nicht mehr aushalten, weil sie in ihrer Freizeit einspringen müssen und so weiter. Es gilt, jetzt deutlich zu machen: Das ändert sich – nicht von einem Tag auf den anderen, das gibt der Arbeitsmarkt nicht her – aber mit einem verbindlichen Plan. Zudem muss sich die Organisation in den Einrichtungen verändern.

Welche Veränderungen schweben Ihnen hier vor?

Dem Personalbemessungsverfahren liegt eine stärker kompetenzorientierte Pflege zugrunde. Das hieße, dass Fachkräfte mehr Aufgaben wie Anleitung, Planung, Evaluation übernehmen. Die Fachkraft soll immer noch pflegen – in der Fachpflege, bei den anspruchsvollen Vorbehaltsaufgaben, bei instabilen Pflegesituationen. Sie wird also nicht zum bloßen Manager. Aber sie wird auch und stärker als bisher Managementaufgaben in einem kleinen Team übernehmen müssen und dafür andere Aufgaben abgeben. Wenn examinierte Kräfte nur Tätigkeiten ausüben würden, für die eine Fachkraftausbildung nötig ist, stünde mehr als doppelt so viel Zeit für diese Tätigkeiten zur Verfügung – ohne dass eine einzige zusätzliche Fachkraft eingestellt wurde. Das muss in den Einrichtungen aber eingeübt werden. Genauso wie wieder gelernt werden muss, dass nicht immer alles ganz schnell – und damit häufig auch zu schnell – gehen muss, sondern dass Zeit für eine fachgerechte Pflege da ist.

Das spielt an auf die modellhafte Erprobung des von Ihnen entwickelten Algorithmus. Diese ist vom Bundesgesundheitsministerium bislang offenbar nicht vorgesehen.

Ich würde mir wünschen, dass der Algorithmus in einigen Einrichtungen schon einmal weitgehend umsetzt wird, mit dem entsprechenden zusätzlichen Personal. Dabei könnte getestet werden, wie die Prozesse verändert werden müssen, damit die bessere Personalausstattung auch zu einer guten Pflegequalität führt. Es geht hierbei nicht darum, ein paar Leuchttürme zu schaffen, sondern darum, aus den Erfahrungen in diesen Einrichtungen Lehren zu ziehen, die bei der späteren flächendeckenden Einführung des Personalbemessungsinstruments und der neuen Arbeitsorganisation helfen. Die modellhafte Erprobung sollte jetzt in die Wege geleitet werden und parallel zur ersten Stufe stattfinden. So könnten Konzepte entwickelt werden, die dann bei der Umsetzung der zweiten Stufe bereits zur Verfügung stehen.

 

Laut Projekttitel sollte ein bundesweit einheitliches Verfahren zur Personalbemessung entwickelt werden, das die unterschiedlichen Länderregelungen ablöst. Warum ist dieses Ziel eines bundesweit einheitlichen Verfahrens sinnvoll?

Wir haben ein bundeseinheitliches Versicherungssystem und Begutachtungsverfahren. Ein pflegebedürftiger Mensch mit zum Beispiel Pflegegrad 3 in Bayern hat im Durchschnitt dieselben Bedürfnisse wie ein anderer in Mecklenburg-Vorpommern. Warum sollte er im Norden 15 Prozent weniger Personal benötigen? Diese Unterschiede sind historisch gewachsen, normativ aber nicht zu rechtfertigen. Pflegebedürftige Menschen haben aber einen Anspruch auf fachgerechte Pflege und wir haben nur quantifiziert, was das bedeutet – unabhängig von Landesgrenzen. Im Zuge der Umsetzung des Personalbemessungsverfahrens brauchen wir daher eine Konvergenz – und zwar eine Konvergenz nach oben, denn in allen Ländern gibt es einen Mehrbedarf, der nur unterschiedlich stark ausgeprägt ist.

Zwischen den Einrichtungen gibt es aber doch auch Unterschiede. Zum Beispiel brauchen kleine Pflegeheime womöglich mehr Fachkräfte, um zu jeder Zeit eine Mindestausstattung zu gewährleisten. Beinhaltet der Algorithmus diese Flexibilität?

Für diesen Fall haben wir einen sogenannten Sockel eingebaut. Demnach muss jeder Wohneinheit in jeder Schicht mindestens eine Fachkraft zur Verfügung stehen. Das bedeutet, dass es insgesamt wenigstens sieben Fachkräfte geben muss, um die Betreuung rund um die Uhr inklusive Urlaubszeiten etc. abzudecken. Der Algorithmus gleicht das Ergebnis seiner Berechnung mit diesem Mindestsockel ab und wirft den jeweils höheren Wert aus. So wird sichergestellt, dass auch in kleinen Einrichtungen immer genug Fachkräfte da sind.

Sie haben angesprochen, dass Ihr Konzept eine neue Arbeitsaufteilung zwischen Fach- und Assistenzkräften beinhaltet. Wie kann der Gefahr entgegengewirkt werden, dass der Pflegeprozess dadurch zerstückelt oder gar »taylorisiert« wird?

Das ist eine gute Frage und eine große Herausforderung, der wir uns in einer modellhaften Erprobung stellen sollten. Die Gefahr einer Taylorisierung sehe ich auch, dem muss unbedingt entgegengewirkt werden. An der Bezugspflege sollte festgehalten werden, gleichzeitig muss aber sichergestellt sein, dass die Fachkraft nicht zum Beispiel Regale füllt, weil sie gerade da steht. Wir müssen schauen, wie Bezugspflege und Kompetenzorientierung zusammengehen. Da gibt es schon viele schlaue Konzepte, die eingesetzt werden könnten – aber mit einem vernünftigen Personalschlüssel.

Viele examinierte Pflegekräfte haben ihren Beruf ergriffen, weil sie mit Menschen arbeiten wollen. Sich weitgehend auf Planung und Beaufsichtigung zu beschränken, würde die Arbeit für sie nicht attraktiver machen.

Bei Menschen mit Pflegegrad 5 liegt der Zeitanteil von Fachkräften bei über 60 Prozent, inklusive der ein- bis zweijährig Qualifizierten bei über 80 Prozent. Bei schweren Fällen brauchen wir also ohnehin fast ausschließlich Fachkräfte. Zudem gibt es die Aufgaben, die examinierten Pflegekräften vorbehalten sind. Daher ist klar: Pflegefachkräfte sollen nach wie vor pflegen. Aber zur Fachlichkeit gehört auch, den Pflegeprozess zu organisieren. Dieser Bestandteil würde sicherlich wachsen und der Anteil der Pflege am Bett etwas zurückgefahren werden, aber nicht in dramatischem Ausmaß.

Welche Aufgabe sehen Sie für die betrieblichen Interessenvertretungen in der neuen Ausgestaltung der Arbeitsorganisation?

Auf Grundlage meiner Erfahrungen aus der Studie kann ich sagen: Ich würde eine modellhafte Erprobung nur in Einrichtungen durchführen, in denen ich die Mitarbeitenden auf allen Ebenen vom Mitmachen überzeugen kann. Die Beschäftigten müssen unbedingt mitgenommen werden. Und dafür spielen die jeweiligen Interessenvertretungen, ob Mitarbeitervertretungen, Betriebsräte oder Gewerkschaft, eine wichtige Rolle.

Sie haben errechnet, dass für eine bedarfsgerechte Versorgung bis 2030 insgesamt 186.000 zusätzliche Pflegekräfte nötig wären. Was sind die entscheidenden Stellschrauben, um diese hohe Zahl an Arbeitskräften für die Altenpflege zu gewinnen und im Beruf zu halten?

Ich sehe zwei zentrale Stellschrauben. Zum einen die Entlohnung, die vor allem für die Rekrutierung neuer Arbeitskräfte wichtig ist. Pflegefach- und -assistenzkräfte verdienen brutto in der Altenpflege immer noch zwischen 500 und 600 Euro im Monat weniger als in der Krankenpflege. Wenn die ersten generalistisch ausgebildeten Pflegekräfte in zwei Jahren auf den Arbeitsmarkt kommen und diese Lücke dann noch besteht, wird es schwierig sein, diese für die Altenpflege zu gewinnen. Zum anderen müssen sich die Arbeitsbedingungen verbessern, die der zentrale Grund dafür sind, warum Menschen diesen Beruf verlassen. Und dafür ist die Personalausstattung die entscheidende Voraussetzung.

Für die ambulante Pflege haben sie kein Personalbemessungsinstrument entwickelt. Ist der Grund dafür, dass hier genug Personal vorhanden ist?

Nein, auch in der ambulanten Pflege gibt es beileibe nicht genug Personal. Hierzu hat Professor Andreas Büscher von der Hochschule Osnabrück einen Unterauftrag ausgeführt, der im Gesamtbericht enthalten ist. Dass wir für die ambulante Pflege kein Personalbemessungsinstrument entwickelt haben, hat andere Gründe. Für die stationäre Pflege haben wir drei Fragen gestellt: Wie viele Interventionen braucht der pflegebedürftige Mensch, wie viel Zeit wird pro Intervention benötigt und welches Qualifikationsniveau ist für die jeweilige Intervention notwendig? Im ambulanten Bereich hängt die Zahl der Interventionen nicht vom Bedarf ab, sondern davon, was die Pflegebedürftigen mit ihrem Pflegedienst vereinbaren. Auch das Qualifikationsniveau ist hier nicht so relevant, weil es wenig Sinn macht, dass für die eine Aufgabe die Fachkraft und für die nächste die Assistenzkraft in den Haushalt kommt. Hier müssen Fachkräfte schon aus organisatorischen Gründen häufiger auch einfache Tätigkeiten erledigen. Man könnte auch in der ambulanten Pflege erheben, wie viel Zeit für welche Tätigkeiten nötig ist. Entsprechende Werte geben dann aber Hinweise auf die notwendige Vergütung der Einrichtungen und nicht auf die Personalbemessung, und diese Frage zu bearbeiten, war nicht unser Auftrag.

Interview: Daniel Behruzi

 

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