ver.di trägt die Empfehlungen der im Rahmen der »Ausbildungsoffensive Pflege« gebildeten Arbeitsgruppe zu den Aufgabenprofilen hochschulisch ausgebildeter Pflegefachpersonen nicht mit. Heißt das, ihr seid gegen die professionelle Weiterentwicklung der Pflege?
Franziska Aurich: Ganz und gar nicht. Die Vorschläge der Arbeitsgruppe bedeuten aus unserer Sicht eben keine nachhaltige Professionalisierung. Pflege funktioniert im Team, deshalb braucht es das Miteinander hochschulisch und beruflich ausgebildeter Fachkräfte. Hochschulisch qualifizierte Pflegepersonen können in der Praxis eine bereichernde Rolle spielen, ohne dass sie über die anderen Qualifikationswege herausgehoben werden. Die berufsfachliche Ausbildung mit ihrer engen Anbindung an den Betrieb ist ein Erfolgsmodell. Die Pflege insgesamt muss aufgewertet werden, nicht nur ein kleiner Teil.
Das heißt, ihr lehnt die hochschulische Pflegeausbildung nicht ab?
Johannes Hermann: Auf keinen Fall! Es geht darum, die verschiedenen Qualifikationen so einzusetzen, dass es für die pflegebedürftigen Menschen bzw. Patient*innen einen Mehrwert hat. Hier sind noch Fragen offen. Welche Aufgaben von hochschulisch ausgebildeten Pflegepersonen sind eine sinnvolle Ergänzung zu den Tätigkeiten der hoch qualifizierten Fachkräfte mit beruflicher Ausbildung? Die Antwort der Arbeitsgruppe, den hochschulisch Ausgebildeten sogenannte hochkomplexe Tätigkeiten zuzuschreiben, und die Examinierten davon perspektivisch auszuschließen, ist nicht sinnvoll und keine Verbesserung der Versorgungsqualität.
Warum sind »hochkomplexe Pflegetätigkeiten« nicht geeignet, die Tätigkeiten von hochschulisch und beruflich ausgebildeten Fachkräften zu unterscheiden?
Johannes Hermann: Weil eine Unterscheidung von hochkomplex und komplex die Lebenswirklichkeit im Arbeitsalltag völlig außer Acht lässt. In der Langzeitpflege ist oft nur eine Fachkraft pro Schicht für einen Wohnbereich zuständig. Da zwischen den Tätigkeiten von Fachkräften verschiedener Qualifikationswege zu differenzieren, hat mit der Realität nicht viel zu tun. Selbstverständlich erbringen beruflich ausgebildete Fachkräfte heute alltäglich auch hochkomplexe Pflege – und das sehr gut.
Heißt das, es gibt kein Qualitätsproblem?
Franziska Aurich: Wir haben durchaus ein Problem mit der Pflegequalität. Das liegt aber nicht an der Qualifikation der Kolleg*innen, sondern am Personalmangel. Pflegefachkräfte müssen sich um zu viele Patient*innen bzw. Bewohner*innen gleichzeitig kümmern. Es gibt meist kein funktionierendes Ausfallmanagement, es fehlt an Zeit für gute Pflege. Mehr Personal, Entlastung und eine angemessene Bezahlung – das sind die Stellschrauben zur Verbesserung der Pflegequalität. Eine gute Einführung hochschulisch qualifizierter Kolleg*innen kann helfen. Sie müssen aber ein klar abgegrenztes Aufgabenprofil haben und im Stellenschlüssel entsprechend abgebildet sein.
ver.di warnt in einer Stellungnahme vor einer Abwertung der beruflichen Pflegeausbildung.
Franziska Aurich: Wenn Tätigkeiten, die heute alle Fachkräfte ausführen, künftig nur noch von hochschulisch ausgebildeten Pflegepersonen übernommen werden sollen, droht in der Tat eine Abwertung beruflich qualifizierter Kolleg*innen. Wir halten dagegen, dass die ganze Profession aufgewertet gehört. Und wir stehen für ganzheitliche, patientenorientierte Pflege. Eine Taylorisierung, bei der Planung, Durchführung und Evaluation von unterschiedlich qualifizierten Pflegepersonen erbracht werden, schadet sowohl der Versorgungsqualität als auch der Attraktivität der Berufe.
Johannes Hermann: Wer die Akademisierung propagiert, muss erklären, warum wir zwei fachlich qualifizierte Beschäftigtengruppen in der Pflege brauchen. Ohne ein abgrenzbares Arbeitsfeld für hochschulisch ausgebildete Pflegepersonen kann es nur darauf hinauslaufen, dass andere Fachkräfte verdrängt werden. Wenn hochschulisch qualifizierte Pflegepersonen Tätigkeiten übernehmen sollen, die bislang von beruflich qualifizierten Kolleg*innen ausgeübt werden, wird sich irgendwann die Frage stellen: Warum brauchen wir noch Pflegefachkräfte mit beruflicher Ausbildung? Und das lehnen wir entschieden ab. Die Berufsausbildung ist hochwertig und anspruchsvoll. Sie infrage zu stellen, weil man keine abgrenzbaren Aufgabenprofile für hochschulisch ausgebildete Pflegepersonen findet, ist der falsche Weg.
Wie seht ihr das Verhältnis von Wissenschaft und Praxis? Dass es sinnvoll ist, mehr wissenschaftliche Expertise in die Pflege zu bringen, ist wohl unbestritten.
Franziska Aurich: Ja. Auch in der berufsfachlichen Ausbildung kann und sollte man zu einem gewissen Grad lernen, wissenschaftlich zu arbeiten. Die neuen Pflegeausbildungen sind ja auch angehalten, das zu vermitteln. Sinnvoll ist es auch, wenn sich beruflich ausgebildete Pflegepersonen wissenschaftlich weiterqualifizieren. Ganz klar: Wir brauchen mehr wissenschaftliche Evidenz in Pflege und Medizin. Nur ein kleiner Teil der Interventionen ist tatsächlich evidenzbasiert. Hier braucht es Forschung, die aber nicht losgelöst von der Praxis stattfinden kann.
Treibt ihr mit eurer Kritik an den Empfehlungen der Arbeitsgruppe einen Keil zwischen die Pflegeberufe?
Johannes Hermann: Ganz im Gegenteil. Wir haben Pflegende aller Qualifikationsstufen im Blick. Und übrigens auch die anderen Berufsgruppen, wie Therapeut*innen, Betreuungskräfte und andere, mit denen die Pflege eng kooperiert. Anders herum wird ein Schuh daraus: Wenn die Aufgaben hochschulisch ausgebildeter Pflegepersonen nicht klar von denen anderer Fachkräfte abgegrenzt sind, besteht die Gefahr der Konkurrenz und Spaltung.
Franziska Aurich: Das ist Ergebnis der Diskussionen unter den ver.di-Aktiven – darunter Auszubildende, Studierende, hochschulisch und beruflich qualifizierte Pflegekräfte und auch andere Berufsgruppen.
Bedeuten mehr hochschulisch qualifizierte Pflegekräfte automatisch, dass sich die Arbeitsbedingungen verbessern?
Johannes Hermann: Nein, die Arbeitsbedingungen verbessern sich, wenn wir mehr Personal und mehr Zeit haben. Dafür streiten wir als ver.di seit vielen Jahren – und das ziemlich erfolgreich, wie ich finde. Wir haben an mittlerweile 25 Krankenhäusern Tarifverträge für Entlastung durchgesetzt, die die Arbeitsbedingungen ganz real verbessern. Wir haben auf die politisch Verantwortlichen so viel Druck gemacht, dass die Personalbemessung für die Krankenpflege, die PPR 2.0, nun endlich beschlossen ist. Wir bleiben dran, bis bedarfsgerechte und verbindliche Personalvorgaben tatsächlich Realität sind – auch in der Altenpflege und den psychiatrischen Einrichtungen. Das ist der Schlüssel, die Pflege wieder attraktiver zu machen. Und auch, die Pflegequalität zu verbessern.
Wie kommen die ver.di-Positionen zur Pflegeausbildung überhaupt zustande?
Franziska Aurich: Wir sind eine demokratische Organisation, deshalb entscheiden unsere Mitglieder, wie sich ver.di positioniert. Regelmäßig befragen wir Auszubildende und Studierende und analysieren die Ergebnisse im »Ausbildungsreport Pflegeberufe«. Auch daraus ziehen wir Schlussfolgerungen. Vor allem aber kommen unsere Aktiven selbst aus der beruflichen Praxis. Sie kennen den betrieblichen Alltag und wissen, wovon sie sprechen.
Johannes Hermann: Das kann ich nur unterstreichen. Unsere große Stärke ist die betriebliche Anbindung. Mit den Tätigkeitsprofilen hat sich eine Arbeitsgruppe von betrieblichen Praktiker*innen und von Pflegepersonen unterschiedlicher Qualifikationsniveaus beschäftigt. Die ver.di-Stellungnahme haben sich also nicht irgendwelche Funktionär*innen oder Theoretiker*innen ausgedacht, sie basiert auf den vielfältigen Erfahrungen unserer Aktiven in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen.
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