Johannes Hermann ist Gesamtbetriebsratsvorsitzender bei der AWO Sachsen Soziale Dienste gGmbH und neu gewählter Vorsitzender des ver.di-Bundesfachbereichsvorstands Gesundheit, Soziale Dienste, Bildung und Wissenschaft.
Der ehrenamtliche Vorstand des ver.di-Bundesfachbereichs Gesundheit, Soziale Dienste, Bildung und Wissenschaft hat dich zu seinem Vorsitzenden gewählt. Was bedeutet das für dich und wo siehst du deine Rolle?
Es ist stark, dass die Kolleg*innen mir das zutrauen. Ich selbst habe mich erst gar nicht so sehr in dieser Rolle gesehen. Ich bin eher der ruhige, ausgleichende Typ, der anderen zuhört, sich auf dieser Basis eine Meinung bildet und versucht, alle mitzunehmen. Vielleicht sind diese integrativen Fähigkeiten in der jetzigen Situation durchaus gefragt – kurz nach der Fusion der ver.di-Fachbereiche und auch angesichts der vielen gesellschaftlichen Turbulenzen, die gerade auch unsere Tätigkeitsfelder massiv betreffen.
Welche Rolle spielt der Bundesfachbereichsvorstand in ver.di eigentlich? Könnt ihr wirklich etwas bewegen?
Eine unserer zentralen Aufgaben ist es, dafür zu sorgen, dass Kolleginnen und Kollegen der vielen unterschiedlichen Tätigkeitsfelder unseres Fachbereiches bei uns eine Heimat finden. Der Bundesfachbereichsvorstand muss bei der Entwicklung von Zielen, Positionen und Aktivitäten alle im Blick haben. Und das kann er auch, weil Kolleg*innen aus den unterschiedlichsten Betrieben im Vorstand vertreten sind und ihre Perspektive einbringen. Wichtig ist, dass wir diese Haltung gut vermitteln und alle das Gefühl haben: Hier komme ich mit meinen Themen vor. Das heißt nicht, dass wir immer alles machen können. Wir müssen transparent vermitteln, welche Schwerpunkte wir setzen. Wenn diese im Dialog entwickelt werden, akzeptieren es die Kolleg*innen, wenn auch mal andere und nicht die eigenen Themen Vorrang haben. Davon bin ich überzeugt.
Wie wollt ihr den Dialog mit den aktiven Kolleg*innen außerhalb des Bundesfachbereichsvorstands praktisch organisieren?
Meine Stellvertreterinnen Pauline Kracht, Franziska Aurich und ich haben uns aufgeteilt, wer mit welcher Fachkommission Kontakt hält. Die Kolleg*innen sollen merken, dass der Vorstand kein abgeschotteter Zirkel ist, sondern dass wir an ihrer Arbeit und ihrer Meinung interessiert sind, dass wir ihre Erfahrung und ihr Wissen brauchen. Wenn es uns gelingt, das zu vermitteln, dann wirkt der Bundesfachbereichsvorstand in die Breite des Fachbereiches. Das ist zwar ein hoher Anspruch, den wir aber bestmöglich erfüllen wollen.
Die Fusion der beiden ver.di-Fachbereiche war ein längerer Prozess. Wie hast du diesen erlebt?
Manche Kolleg*innen aus Bildung, Wissenschaft und Forschung äußern die Befürchtung, sie könnten in dem neuen, größeren Fachbereich nicht mehr ausreichend gesehen werden. Schon während des Fusionsprozesses habe ich dazu immer wieder das Gespräch gesucht. Schon im alten Fachbereich 3 gab es die Herausforderung, neben den großen auch den vielen kleineren Berufsgruppen eine Stimme zu geben. So versuchen wir es auch jetzt. Formal ist der Fusionsprozess beendet, aber das Zusammenwachsen geht weiter. Wir arbeiten weiter daran, dass alle im neuen Fachbereich ankommen und sich eine gemeinsame Identität entwickelt. Wir sind ein großes Team.
Du selbst kommst aus der Altenpflege. Welche zentralen Fragen stellen sich dort in nächster Zeit?
Erstens muss die Finanzierung der Pflegeversicherung auf ein starkes und solidarisches Fundament gestellt werden. Wir haben den Vorschlag einer Solidarischen Pflegegarantie eingebracht, bei der das Pflegerisiko von allen Einkommensgruppen solidarisch getragen wird und die Pflege nicht vom Geldbeutel des Einzelnen abhängt. Die alte und bislang auch die neue Bundesregierung haben nur kurzfristige Maßnahmen ergriffen, statt grundlegende Reformen anzugehen. Es kann nicht angehen, dass die notwendigerweise steigenden Kosten größtenteils von den pflegebedürftigen Menschen und ihren Angehörigen geschultert werden müssen. Hierin steckt ein enormer sozialer Sprengstoff, die Verantwortlichen dürfen sich nicht länger wegducken.
Zweitens braucht es einen bedarfsgerechten, bundesweit einheitlichen Personalschlüssel. 2016 ist das Gesetz zur Personalbemessung in Kraft getreten. Erst in diesem Jahr, also siebeneinhalb Jahre später, beginnen die Modellprojekte zur Personalbemessung. Und ob die bisher errechneten Personalbedarfe je verbindlich vorgeschrieben werden, ist ungewiss. Das ist untragbar und macht das Problem von Überlastung und Personalnot immer größer. Drittens muss die Tarifbindung massiv gestärkt werden. Auch die sogenannte Tariflohnpflicht erreicht dieses Ziel nicht.
Und außerhalb der Altenpflege? Wo siehst du wesentliche inhaltliche Themen des Fachbereichs?
Eine zentrale Frage ist die Finanzierung der öffentlichen Daseinsvorsorge. Der Bundesfinanzminister hält stur an der Schuldenbremse fest, bei der Bewältigung des Klimawandels fallen enorme Kosten an, die Aufrüstung ist teuer. Vor diesem Hintergrund ist es ganz wichtig, dass sich die Beschäftigten aus dem Bildungs-, Gesundheits- und Sozialwesen selbstbewusst Gehör verschaffen. Sie müssen klarmachen, wie elementar ihre Arbeit für die Gesellschaft ist, und dass sie angemessen finanziert werden muss. Es gibt einen Verteilungskonflikt. Man muss aber nicht nur über die Verteilung vorhandener Mittel reden, sondern auch darüber, wo weiteres Geld herkommt. Der Reichtum in Deutschland ist extrem ungerecht verteilt. Das muss sich ändern. Eine gerechte Besteuerung sehr hoher Vermögen und die Anhebung von Beitragsbemessungsgrenzen schaffen Spielräume für eine gute Finanzierung der Daseinsvorsorge, die allen zugutekommt.
Dagegen gibt es enorme Widerstände. Ist es überhaupt möglich, grundlegende Änderungen zu bewirken?
Ich komme aus dem Osten und habe 1989 erlebt, was wir gemeinsam erreichen können. Damals habe ich erlebt, welche Veränderungen möglich sind. Und ich bin von ganzem Herzen überzeugt: Wir können etwas bewegen und dabei können und sollten die Gewerkschaften eine ganz wichtige Rolle spielen. Wir werden gebraucht, gerade in diesen Zeiten. Es ist gut, dass immer mehr Beschäftigte die Schlussfolgerung ziehen und ver.di beitreten. 100.000 neue Mitglieder in den vergangenen Monaten – das macht mich hoffnungsfroh.
Gesellschaftlich wahrgenommen werden Gewerkschaften vor allem, wenn gestreikt wird.
Ja, und das, was wir in der Tarifpolitik erreichen, ist auch das stärkste Argument dafür, sich uns anzuschließen. Aber Gewerkschaft ist viel mehr. Wir nehmen Einfluss auf politische Entscheidungen. Für jedes relevante Thema gibt es Expert*innen bei uns. Ich war von der SPD als Sachverständiger in die Enquete-Kommission Pflege in Sachsen eingeladen worden. Bei schwierigen Fragen konnte ich mich immer mit den Fachleuten in der ver.di-Bundesverwaltung beraten – eine tolle Erfahrung! Bei der AWO haben wir ein bundesweites Netzwerk der in ver.di organisierten Betriebsräte, die sich gegenseitig unterstützen. Das ist für die betriebliche Arbeit extrem hilfreich. Beide Beispiele erzählen davon, wie wichtig und vielseitig Gewerkschaftsarbeit ist.
Du hast gesagt, du bist eher der ruhige Typ. Was regt dich denn auf?
Wenn jemand etwas erwartet und nichts dafür tut. Das kann ich schwer aushalten. Und auch, wenn immer nur das Negative gesehen wird. Es ist für uns als gewerkschaftlich Aktive und betriebliche Interessenvertreter*innen wichtig zu sehen, was wir erreichen. Das ist eine ganze Menge. Das dürfen wir uns nicht kleinreden lassen. Und das sollten wir auch nach innen und außen deutlich machen.
Jetzt geht es los: Du fährst mit anderen ver.di-Aktiven aus der Altenpflege zur Gesundheitsministerkonferenz von Dresden nach Friedrichshafen – 620 Kilometer mit dem Fahrrad! Was versprichst du dir von der Aktion?
Wir wollten mal eine andere Aktionsform wählen und deutlich machen: Um gute Pflege durchzusetzen, brauchen wir Ausdauer und einen langen Atem. Uns ist eben »kein Weg zu weit für gute Pflege«, so das Motto. Kolleg*innen können aber auch zum Zwischenstopp kommen oder ein Stück mitfahren. Wir wollen die Forderungen aus der Altenpflege sichtbar machen – und dabei werden wir sicher jede Menge Spaß haben. Ich freue mich drauf!
ver.di Bundesverwaltung